Sex oder Lüge
Vier Jahre lang hatte Corinne ihrer Tochter das College finanziert. Brenna hatte behauptet, sie habe das Hauptfach gewechselt, müsse das Apartment wechseln und umziehen – und hatte all das Geld in die Gründung ihrer Band gesteckt.
Brenna hatte Ausrüstung und Instrumente gekauft, einen Proberaum angemietet, sich Bühnenoutfits angeschafft und Reisekosten gedeckt. Nicht mal das erste Semester hatte sie zu Ende gebracht, und Corinne hatte sich wie eine Närrin gefühlt, zumal Brenna ihre kleine Schwester Zoe dazu angestiftet hatte, die Briefe von der Washington-State-Universität abzufangen, damit ihre Mutter nicht die Wahrheit erfuhr.
Andererseits wusste Miranda auch, dass Brenna im Verlauf der letzten sechs Jahre, seit dem ersten erfolgreichen Album von „Evermore“, versucht hatte, ihrer Mutter das veruntreute Geld zurückzugeben. Doch Corinne hatte das „schmutzige Geld“, wie sie es nannte, immer abgelehnt.
Ganz begreifen konnte Miranda diese Haltung nicht, zumal Corinne jetzt, da ihre jüngere Tochter Zoe aufs College gehen wollte, Probleme hatte, ihr auch nur das Nötigste zu finanzieren. Obendrein fiel es Corinne nach allem, was vorgefallen war, schwer, ihrer jüngeren Tochter zu vertrauen.
„Musst du bei dem neuen Verfahren aussagen?“
Corinnes Frage riss Miranda aus ihren Gedanken. „Ich weiß es nicht. Mein Anwalt meint, es könne dazu kommen, aber er versucht es zu verhindern. Eines kannst du mir glauben: Wenn ich nach Baltimore fliegen muss, dann komme ich so schnell wie möglich wieder hierher zurück.“
„Eigentlich seltsam, dass sich hier bisher kaum ein Journalist hat blicken lassen. Schließlich ist Mistletoe deine Heimatstadt.“
„Das überrascht mich auch.“ Ganz leicht aufzuspüren war Miranda allerdings nicht. Um sich zumindest ein bisschen vor neugierigen Reportern zu verbergen, hatte sie bei ihrer Rückkehr nach Mistletoe den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen. Das war ihr zu jener Zeit notwendig erschienen, um sich zu schützen.
„Ich hätte gedacht, dass ein paar dieser Schreiberlinge hier auftauchen, um wenigstens eine Stellungnahme von dir zu bekommen.“ Corinne hob die Schultern. „Besonders wenn man bedenkt, welches Ausmaß die kriminellen Machenschaften deines Exmanns hatten.“
Durch Marshall hatten Tausende von EMG-Angestellten ihre Pension und fast genauso viele Kleinanleger ihr Geld verloren.
„Marshall hat immer gesagt, man müsse in großem Rahmen denken. Mehr Geld, mehr Macht und öfter auf dem Titelblatt der ‘Forbes’.“
„Ja, entsprechend geht’s auch mehr Jahre in den Knast. Ich schätze, damit hat er nicht gerechnet.“ Corinne nahm sich die nächste Bestellung vom Stapel und suchte aus der Vasensammlung eine edle Kristallvase heraus. „Glaubst du, das Berufungsgericht kommt zu einem anderen Urteil?“
Miranda wandte sich wieder ihrem Laptop zu. „An seiner Schuld gibt es keinen Zweifel. Ich kann nur hoffen, dass das Urteil diesmal nicht anzufechten ist, denn ich habe wenig Lust, alle fünf Jahre von schmierigen Reportern belästigt zu werden, die mir ihr Mikro und eine Kamera ins Gesicht halten.“
1. KAPITEL
November
Normalerweise gehörte es nicht zu Caleb McGregors Reportertricks, an eine Story zu kommen, indem er sich hemmungslos betrank. Jetzt aber saß er hier im Club des einzigen Hotels in Snow Falls und trank. Das Romantik-Skihotel lag in den Bergen von Colorado und wurde aus dem Ort Mistletoe, der am Fuß des Bergs lag, mit allem Nötigen versorgt.
Auch mit Alkohol.
Eigentlich wusste Caleb, dass Alkohol niemals weiterhalf. Leider hatte ihn dieses Wissen nicht davon abgehalten, vor Kurzem den größten Fehler seines Lebens zu machen. Er konnte auch nicht leugnen, dass er schon oft Antworten auf seine Fragen gefunden hatte, indem er seine Nase in Dinge gesteckt hatte, die ihn nichts angingen – oder indem er zusammen mit den richtigen Leuten ein Glas zu viel getrunken hatte.
Auch in nüchternem Zustand besaß Caleb fast so viel Intuition wie die weibliche Bevölkerung von Baltimore, der Stadt, in der er lebte, die er aber nicht direkt als Zuhause betrachtete. Ein Zuhause war eher etwas, das mit tieferen Emotionen verbunden war, und so sah er Baltimore als eine Art Basis an, von der aus er seine Reisen unternahm.
Als er hier in Snow Falls im „Club Crimson“ die Sängerin auf der Bühne zum ersten Mal gehört hatte, war sein sechster Sinn sofort zum Leben erwacht.
Unglücklicherweise hatte er mittlerweile schon so
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