Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
Frauen.
Sexualerziehung
Ob sich die nächste Generation frei äußern und entfalten kann und ob sie anderen das Gleiche zugestehen wird, hängt ganz entscheidend von der Erziehung zu Hause und in der Schule ab. Jetzt, wo das Land seine politischen Fundamente erneuert, werden alle Institutionen einer genauen Überprüfung unterzogen – darunter auch das Bildungswesen. Ägypten hat die Chance, auf breiter Front – auch bezüglich der elementaren Tatsachen des Lebens – neue, kreative Lehrpläne einzuführen. Ob das Land tatsächlich in der Lage sein wird, diese dringend benötigte Aufklärung zu leisten, ist allerdings eine ganz andere Frage.
»Sexualunterricht wie im Westen ist hier nicht möglich. Dort herrscht Freiheit. Teenager können einfach miteinander Sex haben, kein Problem«, sagte mir ein Beamter aus dem Bildungsministerium, der wie so viele Ägypter, denen ich begegnet bin, das Ausmaß der sexuellen Freiheit im Westen überschätzte. Er sagte, er ziehe es vor, Sexualerziehung als ein Wahlfach an der Universität anzubieten, etwa zu der Zeit, wenn junge Leute anfangen, übers Heiraten nachzudenken. Aber was sei mit den Jugendlichen, die vor der Ehe sexuell aktiv seien? »Wir haben hier keine Erfahrungen [sexuelle Beziehungen] vor der Ehe«, sagte er. Auf meinen unverhohlen ungläubigen Blick hin räumte er dann jedoch ein: »Nun gut, das gibt es. Aber wir werden es nicht gutheißen, weil es abgelehnt wird. Wenn ich das absegne und Regeln darüber aufstelle, wird die Welt über mir zusammenbrechen. Die Gesellschaft lehnt das ab. Niemand will darüber reden.«
Alles hängt indes davon ab, was man sagt und wie man es sagt. Wie der Beamte andeutete, besteht die unstrittigste Form der Sexualerziehung in der arabischen Region darin, verlobte Paare unmittelbar vor der Hochzeitsnacht sexuell aufzuklären. Als mein Vater ein junger Mann war, war diese »Erziehung« bestenfalls ein heimliches Wort, das eine ältere Verwandte der Braut ins Ohr tuschelte; Bräutigame mussten sich die – tatsächlichen und phantastischen – Einzelheiten mit der Zeit aneignen. Heute kann alles etwas ausgefeilter sein.
»Wir müssen die Erektion verstehen.« Ich saß in einem Klassenzimmer mit etwa sechzig Frauen, die schwarze abayas trugen, als eine detaillierte anatomische Zeichnung des männlichen Fortpflanzungsapparats auf der Leinwand aufleuchtete, überlebensgroß. Shayla -bedeckte Köpfe, die gesenkt waren, als die Frauen in ihre Handys vertieft waren oder mit ihren Nachbarinnen tuschelten, merkten plötzlich auf, nur um im nächsten Moment loszukichern. »Es besteht kein Grund zu lachen«, fuhr die Kursleiterin mit fester, aber freundlicher Stimme fort. »Wir behandeln ein wissenschaftliches und religiöses Thema, das ernst und nicht komisch ist. Wir wollen Ihre Sicht darauf verändern.«
Für Sahar Talaat ist das nichts Besonderes. Seit 2002 hilft sie jungen Araberinnen, in einem Alter der Ungewissheit mit Sex klarzukommen. Talaat, eine gelernte Pathologin, begann zunächst im kleinen Kreis als Vertraute und Ratgeberin von Freundinnen in Kairo. Ihr Ehemann ermunterte sie, daraus einen Beruf zu machen. »Er sagte, du verstehst es so gut, Eheprobleme zu lösen, dass du diese Erfahrung mit anderen teilen solltest.« Talaat gab ihr professionelles Debüt als Beraterin auf den Gesundheits- und Gesellschaftsseiten von Islam Online, einer wegbereitenden Website, die Informationen, Ratschläge und Rechtsgutachten zu jedem erdenklichen Aspekt des modernen Lebens anbietet.
Die kichernden Mädchen und ich waren in Doha, Katar, wo Talaat bei einem von Project Chaste finanzierten Kurs als Gastrednerin auftrat. Project Chaste ist eine katarische Wohltätigkeitsorganisation, die wie ihr emiratisches Pendant, das wir früher kennenlernten, jungen Menschen bei der Eheschließung helfen soll. In dem Klassenzimmer in Doha wollte Talaat die jungen Frauen unbedingt dazu bewegen, über Sex zu sprechen – in einem islamischen Kontext. »Ich sage immer, dass der Islam in dieser Frage nicht verschlossen ist. Verboten ist es nur, grundlos über die intime Beziehung zwischen genau diesen Männern und genau diesen Frauen zu sprechen. Aber wir können offen über die Frage im Allgemeinen reden, wir können lernen.«
Abgesehen von Grundlagen der Anatomie und Physiologie der Fortpflanzungsorgane drehte sich der Unterricht zu einem Großteil darum, uralte Ängste zu zerstreuen. »Sie junge Frauen hier glauben, die Schmerzen, die eine Frau bei
Weitere Kostenlose Bücher