Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
eine Palästinenserin, die teils in Haifa in Israel, teils in Ramallah im Westjordanland lebt und arbeitet. Sie ist die Gründerin von Muntad a Jensaney a, in Englisch auch unter dem Namen Arab Forum for Sexuality, Education and Health bekannt. 20 In der arabischen Welt ist es ein mutiger Schritt, im Briefkopf das Wort »Sex« zu benutzen, erst recht, wenn man eine Frau ist. Aber Tamish lässt sich von Konventionen nicht so leicht beeindrucken. »Ich spreche vernehmbar und sehr offen über sexuelle Themen, und arabische Ohren sind das nicht gewöhnt«, erzählte sie mir. »Ich bin viel zu direkt. Ich nenne die Dinge viel zu sehr bei ihrem [richtigen] Namen.«
Die Devise von Muntada lautet Sexualerziehung – nicht bloß Fortpflanzung nach Schema F, sondern das ganze Chaos von Liebe und Intimität, Lust und Schutz, sexueller Vielfalt und Entwicklung. »Wir verstecken uns nicht, und wir sagen nicht, es sei Familienerziehung. Es ist Sexualerziehung. Zum ersten Mal können die Leute Sexualität wirklich in einer respektvollen, offenen Weise diskutieren. Wir legen alles auf den Tisch«, so Tamish. 21
Die Kommunikationsstrategie von Muntada ist genauso unkonventionell wie ihr Thema. Ein typisches Beispiel ist eine ihrer Hauptinitiativen – die Sexualerziehung in die arabischen Schulen in Israel bringen. Mit ihrem Abschluss in Sexualpädagogik aus den USA bezweifelt Tamish, dass ein standardisierter Lehrplan in ihrer Region der Welt funktionieren kann, und erst recht einer, der aus dem Westen importiert oder direkt nach westlichem Vorbild gestaltet wurde. »Was die arabischen Schulen in Israel haben, ist eine übersetzte Fassung von Unterlagen, die für die israelischen Schulen, für die jüdischen Schulen entwickelt wurden und kein Verständnis für die arabische Kultur haben. Zum Beispiel eine Entscheidung treffen, Sex zu haben oder keinen Sex zu haben. Eine ganze Unterrichtseinheit befasst sich mit dieser Frage … Ich kann das nicht in einen Lehrplan aufnehmen, weil kein Rektor [einer arabisch-israelischen Schule] dies akzeptieren wird. ›Wie bitte, man lässt sie frei entscheiden, ob sie Sex haben oder nicht? In der neunten oder zehnten Klasse?‹«
Die Strategie von Muntada kommt auf den Punkt, allerdings auf indirekte Art und Weise. Zwei der größten Hürden für die Erörterung sexueller Fragen im Unterricht sind Eltern und Lehrer. Um Erstere zu umgehen, teilen Tamish und ihre Kollegen in Schulen anonyme Fragebogen aus, um die dringlichsten Anliegen von Schülern in Erfahrung zu bringen. Die Fragen sind sorgfältig formuliert, ohne die leiseste sexuelle Andeutung – sie sind »koscher«, wie sie selbst sagt. Von den Antworten der Kinder lässt sich dies dagegen nicht behaupten. »Wir fragen [in dem Fragebogen] zum Beispiel: ›Über welche Themen im Zusammenhang mit der Pubertät würdest du gern mehr erfahren?‹ Alles, was im Entferntesten mit Sex zu tun hat, wird hier aufgeschrieben, wirklich alles. Verhütungsmittel, Selbstbefriedigung, Liebe, Geschlechtsverkehr, Schwangerschaft, Veränderungen bei Mädchen in der Pubertät, küssende Jungs, Zungenküsse … alles, was man sich vorstellen kann. Wir bringen sie nicht auf diese Gedanken; das alles stammt von ihnen selbst.«
Der nächste Schritt besteht darin, Schulen bei der Vorbereitung von Treffen mit den Eltern zu helfen. Wenn Behörden bekanntgeben, dass sie vorhaben, Sexualerziehung in den Lehrplan aufzunehmen, ist die Reaktion der Eltern vorhersehbar: Wenn man den Kindern die Augen für dieses Thema öffnet, werden sie als Nächstes ungehemmt Unzucht treiben. Hier greifen nun Tamish und ihr Team ein. »Nun, wir wollen Ihnen lediglich das mitteilen, was von den Schülern selbst gekommen ist«, sagen sie zu den Eltern. »Wir führen ihnen die Ergebnisse dann in einer PowerPoint-Präsentation vor, und sie sind schockiert. ›Was? Unsere Kinder haben das geschrieben?‹ Und ab dem Moment ist es für sie keine Sache von Ja oder Nein mehr, sondern sie fragen: ›Wie machen wir das jetzt?‹ Das ist erstaunlich.« Nach Tamishs Erfahrung ist die Überzeugungskraft dieser selbsterhobenen Daten so stark, dass sich die Eltern selbst einbringen wollen. »Das ist nichts, was ich aus den Vereinigten Staaten importiert habe, es ist etwas, das in der palästinensischen Gesellschaft selbst passiert und das ihnen das Gefühl gibt, Verantwortung zu tragen. Und dann beginnen sie, an der Diskussion teilzunehmen. In den meisten Schulen bitten die Eltern um mindestens vier
Weitere Kostenlose Bücher