Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
Fehlstarts und Vollbremsungen – kaum ein grundstürzender Bruch mit der Vergangenheit ist. Ja, der Jüngste – und, wie Ägypter hoffen, der Letzte – in einer Reihe von Militärdiktatoren wurde gestürzt, aber die Armee bleibt ein starker Machtfaktor im politischen und Wirtschaftsleben. Ja, islamische Konservative, die ehedem verfolgt wurden, verfügen heute über politische Macht, aber dies ist der öffentliche Höhepunkt eines langjährigen Trends, in dessen Verlauf viele Ägypter in ihrem persönlichen Leben in religiösen und gesellschaftlichen Fragen konservativer geworden sind.
Ihre gesamte Geschichte hindurch haben sich Ägypter in schwierigen, unsicheren Zeiten der Religion zugewandt, nur um diese Bindung zu lockern, sobald Wohlstand und Stabilität zurückkehrten. Die Salafisten, deren Anschauungen dem ägyptischen Islam im Grunde wesensfremd sind und von außen aufgepfropft wurden, bekamen die Reaktion ihres Wirtes rasch zu spüren, kaum dass sie einen starken politischen Bedeutungszuwachs verzeichneten; ihre plötzliche Kehrtwende im grellen Licht eingehender öffentlicher Untersuchung enthüllte auch ihre Schwächen, und ihre Versuche, Ägypten und viele seiner arabischen Nachbarn nach ihrem Bild des Islam umzukrempeln, dürften auf lange Sicht kaum von Erfolg gekrönt sein. Ihre gemäßigteren Gesinnungsgenossen in der gesamten Region – einschließlich der Muslimbrüder – sind eine stärkere Kraft, mit der zu rechnen sein wird, aber ihr Aufstieg zur Macht ist auch ein Glücksspiel: Wenn sie die gewaltigen Probleme ihrer Länder lösen wollen, müssen sie sich von einigen ihrer Prinzipien verabschieden und sich auch politisch in wichtigen Punkten neu aufstellen, was den politischen Islam, wie wir ihn kennen, grundlegend verändern wird. Wenn sie hierbei scheitern, könnte der daraus resultierende Vertrauensverlust in der Bevölkerung nicht nur ihre eigenen Aussichten ruinieren, sondern auch den Glauben an den politischen Islam erschüttern. Ganz gleich, wie die Entwicklung der nächsten Jahre aussehen wird, hat der Aufstieg dieser Gruppen in einem aufkommenden demokratischen System bereits einfache Leute (die »Sofa-Partei«) dazu veranlasst, Einfluss und Rolle des Islam in der Gesellschaft zu hinterfragen und zu diskutieren – eine lebhafte öffentliche Partizipation, wie es sie unter dem alten Regime nicht gab. Dies hat diejenigen elektrisiert, die gegen eine Vermischung von Religion und Politik sind, und Liberale wurden aus ihrer jahrzehntelangen Apathie herausgerissen und kämpfen jetzt für ihre Vision von der Zukunft des Landes.
Seit der letzten Volkserhebung vor sechzig Jahren ist Ägypten ein brodelnder Dampfkessel von Korruption, Ungerechtigkeit und Unfähigkeit gewesen; im Jahr 2011 führten mehrere Umstände dazu, dass bei Protesten, die die gesamte Region erschütterten, der Druck so stark zunahm, dass der Deckel fortgeschleudert wurde. Doch brodelt es weiterhin in dem Kessel – und dies wird auch über das nächste Jahrzehnt so weitergehen –, so dass es schwierig ist, vorherzusagen, welche Form die Gesellschaft schließlich annehmen wird. Diese Ungewissheit zieht sich wie ein roter Faden durch die Aussagen der Personen, die in diesem Buch zu Worte kommen – einige blicken optimistisch in die Zukunft, andere befürchten, dass sich nur wenig beziehungsweise nur wenig zum Positiven verändern wird. Ich persönlich bin zuversichtlich, dass Ägypten, sobald sich der Tumult gelegt hat, über eine stärkere, produktivere Basis für künftige Generationen verfügen wird.
Was dies für die Sexualkultur des Landes bedeutet, hängt von einem komplexen Wechselspiel zwischen Recht, Wirtschaft, Religion und Tradition ab. Generationen von Ägyptern haben ihr Leben lang von den Mächtigen im In- und Ausland zu hören bekommen, was sie tun beziehungsweise nicht tun sollten; aufgrund ihres Mutes liegt es nun an ihnen zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Wenn der Zeitpunkt kommt, an dem die Ägypter bereit sein werden, sich dieser Fragen anzunehmen – und ich bin mir sicher, dass er kommen wird –, dann brauchen wir eine Reihe von Veränderungen, damit sich die Sexualkultur in eine andere Richtung entwickeln kann.
Seit der Erhebung sind alle Augen auf das politische Machtgleichgewicht sowie auf eine Verfassungs- und allgemeine Rechtsreform gerichtet. Was Sexualität anlangt, so sind die ägyptischen Gesetze im Vergleich zu denen anderer Länder in der Region absolut liberal gewesen. Wie
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