Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
weist diese Mauer in Wirklichkeit aber eine Menge Öffnungen auf – nicht nur Neuerer, die im größeren politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen auf Veränderungen hinarbeiten, sondern auch gewöhnliche Menschen, die versuchen, in ihrem kleinen persönlichen Lebensumfeld Glück zu finden. Auf all meinen Reisen habe ich mir kein einziges Mal eine Abfuhr geholt, wenn ich das Thema Sexualität anschnitt; tatsächlich habe ich festgestellt, dass gerade die ärmeren und weniger gebildeten unter meinen Gesprächspartnern zu einem besonders freimütigen und oftmals sehr amüsanten Meinungsaustausch bereit waren.
Dies galt insbesondere für Ehefrauen, die im Allgemeinen in diesen Dingen expliziter waren als ihre Ehemänner, teils weil sie im Gespräch mit einer Person des gleichen Geschlechts unbefangener waren, teils weil sie eine schwerere Bürde tragen; sie genossen es in jeder Hinsicht, sich unter Freundinnen natürlich geben zu können. Menschen öffneten sich mir in einer bemerkenswerten Weise, selbst Männer, von denen ich wusste, dass sie solche Themen niemals mit ihren Ehefrauen oder Schwestern, Müttern oder Töchtern ansprechen würden. Diese Offenheit verdankte sich unter anderem der Erleichterung darüber, jemandem aus einem Land zu begegnen, in dem Sex etwas ist, worüber man vorurteilsfrei und unzensiert sprechen kann, der aber auch mit ihrer Kultur vertraut ist. Ich war sowohl Insider als auch Outsider – eine Position, die äußerst undankbar hätte sein können, sich dann aber als überaus fruchtbar erwies.
Diese Bereitschaft, mit denjenigen zu sprechen und denjenigen zuzuhören, die nicht unbedingt den eigenen Standpunkt teilen, wird für die Zukunft Ägyptens von entscheidender Bedeutung sein. Der Wille zu Konformität und Konsens ist ein Merkmal autoritärer Regime; Demokratie erfordert das Respektieren anderer Meinungen und die Bereitschaft zum geistigen Wettstreit. Der Aufstand und anschließende politische Entwicklungen haben eine Spaltung in der ägyptischen Gesellschaft verstärkt, nämlich die zwischen einer Minderheit, die eine liberale Ordnung anstrebt, und einer Mehrheit, die an konservativen Werten festhält. Solche Unterschiede, die unter dem alten Regime einfach weggebügelt wurden, brechen nun unter den neuen Rahmenbedingungen mit umso größerer Wucht hervor. Das friedliche Miteinander dieser verschiedenen Gruppen wird die aufkommende politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung Ägyptens vor gewaltige Herausforderungen stellen.
Solange die islamischen Konservativen politisch weitgehend machtlos waren, haben sie das Thema Sex oft benutzt, um das Regime anzugreifen; die moralische Verwerflichkeit von Folter, wirtschaftlicher Ungerechtigkeit oder Korruption dagegen haben sie weit weniger kritisiert. Es steht zu hoffen, dass die neuen politischen Kräfte aller Couleur mehr Zeit darauf verwenden, diese und andere fundamentale Missstände der vergangenen sechzig Jahre zu beheben, als darauf, Männer, die Sex mit Männern haben, zu verhaften, Filme zu verbieten, das Internet zu zensieren oder Gesetze aufzuheben, die die Rechte von Frauen stärken, diesen Eckpfeilern des gesellschaftlichen Wandels. Doch ist realistischerweise davon auszugehen, dass das Thema Sex in den anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen in den kommenden Jahren weiterhin sein halb verlockendes, halb peinigendes Haupt erheben wird.
Wie Ägypten mit den in diesem Buch diskutierten sexuellen Fragen klarkommt, hat Auswirkungen weit über seine Grenzen hinaus. Obwohl die ägyptische Gesellschaft von den Nachbarländern, allen voran den Golfstaaten, stark beeinflusst wird, verfügt Ägypten seinerseits über eine gewaltige Soft Power in der Region; durch die Medien und durch Migration von Millionen von Arbeitern verbreitet Ägypten seine Kultur in der gesamten arabischen Welt. Ägypten befindet sich in der einzigartigen Position, Anregungen von außen aufnehmen, sie auf einen lokalen Kontext zuschneiden und dann an andere in der Region weitergeben zu können. Durch die Vereinten Nationen erstreckt sich sein Einfluss sogar noch weiter. Seit mittlerweile fast zwanzig Jahren bemühen sich zivilgesellschaftliche Akteure und Regierungen weltweit darum, sexuelle Rechte in internationalen Abkommen zu verankern – ein Schritt, der denjenigen hilft, die vor Ort für Veränderungen kämpfen; aber auf fast all diese Vorstöße hat Ägypten mit sofortigen
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