Sex und die Zitadelle: Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt (German Edition)
wir gesehen haben, sind beispielsweise voreheliche oder gleichgeschlechtliche Beziehungen gesetzlich nicht verboten; aber Aktivisten haben in diesem Buch zu Recht dafür plädiert, zunächst eine Reihe von Grundsteinen zu legen, ehe man direkt die rechtlichen Aspekte dieser brisanteren Fragen angeht. Auf dem Papier werden ägyptischen Frauen viel mehr Rechte gewährt als ihren Geschlechtsgenossinnen in anderen Ländern der Region – Rechte, um die Frauen von dem scheinbar offenen Libanon bis zum vermeintlich verschlossenen Saudi-Arabien heute kämpfen. In der Praxis aber bleiben diese Rechte Ägypterinnen weitgehend versagt – wegen Armut, wegen Vorurteilen und wegen der patriarchalischen Gesellschaftsordnung.
In vielen Punkten – sei es Abtreibung oder häusliche Gewalt oder andere politische, ökonomische und soziale Rechte – bietet das ägyptische Straf- und Personenstandsgesetz erheblichen Spielraum für Verbesserungen. Das eigentliche Problem ist nicht so sehr das Gesetz auf dem Papier, sondern seine Umsetzung und sein Vollzug. Während der langen Jahrzehnte der Diktatur hatten das Notstandsgesetz und die Befugnisse des Staatssicherheitsapparats, die willkürliche Festnahmen, Inhaftierung und Folter erlaubten, das gesellschaftliche Leben in all seinen Aspekten, einschließlich der Sexualität, weitgehend gelähmt. Nur eine Reform des gesamten Systems birgt die Chance, Freiräume zu schaffen; die Zeit unmittelbar nach dem Sturz von Mubarak hat jedoch gezeigt, dass autokratische Tendenzen sehr zählebig sind. Den langen Arm des Gesetzes zu zügeln – unter anderem durch eine Reorganisation der Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit – wird ein willkommener erster Schritt sein. Wichtig ist es auch, Rechtsanwälte dazu zu ermuntern, Personen aus allen gesellschaftlichen Bereichen zu vertreten, unabhängig davon, wer sie sind oder wie sie leben, und ihnen das dafür erforderliche Rüstzeug zu vermitteln.
Die größte Herausforderung besteht allerdings darin, den einfachen Leuten eine neue Sicht von Recht und Gesetz nahezubringen. Über Generationen hinweg haben Ägypter das Gesetz als ein Instrument der Kontrolle, nicht des Schutzes angesehen, als etwas, dem man möglichst ausweichen sollte, nicht als etwas, worauf man sich berufen sollte – eine Einrichtung zum Wohle der Elite, nicht des Mannes auf der Straße. Dies gilt auch für die Gesetze, die sich auf die Sexualität beziehen, sei es weibliche Genitalverstümmelung oder Abtreibung. Ein – gutes oder schlechtes – Gesetz ist nur so wirkmächtig wie die Achtung, die Menschen ihm entgegenbringen; wenn Menschen den staatlichen Institutionen vertrauen, dann vertrauen sie auch eher den Gesetzen, die diese verabschieden. Daher müssen nicht nur die Gesetze an sich geändert werden, sondern auch die Rechtskultur. Um dies in Ägypten und seinen Nachbarländern zu erreichen, bedarf es umfangreicher Änderungen jenseits der Regierungskorridore.
Ansetzen muss man bei der Bildung. Es ist eine Herkulesaufgabe – eine Generalüberholung eines Systems, das so erstarrt, phantasielos und korrupt ist wie die Regierung, die dafür zuständig ist. Das Bildungssystem in Ägypten ist dermaßen ineffizient, dass man geradezu den Eindruck gewinnt, dass es Schüler weniger kreativ und engstirniger macht, als es ihre schlechter gebildeten Altersgenossen sind. Und das betrifft nicht nur die Schulen, sondern auch die Hochschulen und die religiösen Lehranstalten – sie alle brauchen einen Neustart. Zu den vielen, vielen notwendigen Reformen gehört die Umstellung auf ein System, das kreatives Denken und nicht Anpassung in allen Bereichen – insbesondere der Religion und insbesondere dem Islam – vermittelt und belohnt. Wenn junge Menschen über das geistige Rüstzeug verfügen, um selbst kritisch über Religion nachzudenken, können sie vielleicht die inneren Spielräume, die ihnen ihr Glaube lässt, besser ermessen und dort Wahlmöglichkeiten erkennen, wo sie früher nur zwingende Gewissheiten sahen.
Aber es geht nicht nur um Gott, auch Geld wird eine große Rolle spielen. Ein Großteil der sexuellen Probleme, die Ägypter in den letzten Jahren erlebt haben, hängt auf die eine oder andere Weise mit der Wirtschaft zusammen. Dabei machte Ägypten unter Mubarak keineswegs eine schwere Wirtschaftskrise durch. Ganz im Gegenteil: Das Wirtschaftswachstum war ein vielgepriesener Erfolg seines Regimes und hielt es vermutlich so lange an der Macht, da die Elite mit lukrativen
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