Shadow Guard: Die dunkelste Nacht (German Edition)
ihn gesehen und begonnen, etwas Ungeheuerliches über eine Pupille zu faseln.«
Mark kicherte. »Stellt euch bloß meinen Schreck vor, als er beschließt, den Komödianten zu spielen und die Pupille in seine anscheinend sehr mächtige leere Augenhöhle zu drücken.«
Selene schnappte nach Luft. »Was ist passiert?«
Rourke murmelte: »Er hat eine halbe Wand im Haus Ihres Bruders niedergebrannt, das ist passiert.«
Leeson sicherte seine Augenklappe. »Ich werde diese Wand innerhalb einer Woche reparieren lassen.« Er lächelte. »Sie wissen, dass Ihr Bruder die alten Texte über Tantalos’ Wunsch, diese Erde zu regieren, übersetzt hat, und wie die Schriftrollen und Tafeln prophezeiten, dass gewisse Artefakte und sogar Leute sich am Ende als wichtig erweisen werden? Ich bin ein Uralter. Ich bin hier auf dieser Erde seit Anbeginn der Zeit. Ich wurde mit nur einem Auge geboren, und wie Ihr Euch vorstellen könnt, habe ich mein Pech mehr als einmal verflucht. Jetzt weiß ich, dass es einen Sinn hatte. Mein Fluch ist stattdessen ein Segen. Ich bin erstaunt … verblüfft festzustellen, dass ich, der kleine alte Leeson, immer dazu bestimmt war, im großen Plan der Dinge wichtig zu sein.«
Selene küsste ihn auf die Stirn und flüsterte leise: »Ich bin überhaupt nicht erstaunt.«
»Kommen Sie, lassen Sie uns beginnen«, rief die Königin und führte Selene in ihr Privatgemach, wo Archer und Helena, Mark und Mina mit Leeson und einem Dutzend anderer warteten, sowohl Sterblichen wie auch Amaranthinern.
Selene trug ein königsblaues Gewand aus dickem Satin mit ellbogenlangen, weißen Handschuhen. Eine Tiara, die sie von Marie Antoinette bekommen hatte, schimmerte auf ihrer glänzenden Frisur. Sie schob einen kleinen Gedichtband in die Samttasche, die von ihrem Handgelenk baumelte, und verschluckte schnell die erste Strophe auf Seite zweiunddreißig. Tagelang war sie wegen dieses Abends so nervös gewesen, dass sie es sich angewöhnt hatte, mehrere Bände am Tag zu verspeisen.
Sie schaute den langen Flur hinunter. »Eure Majestät, wir sollten warten. Avenage ist noch nicht eingetroffen.«
Unter ihrer Spitzenhaube schnaubte die Königin. »Er nimmt niemals an diesen Ereignissen teil. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich eine ganze Schachtel voll Bänder, Orden und Schärpen angesammelt, die ihm gehören. Er hat einfach niemals ein Interesse daran gezeigt, eine Anerkennung für Tapferkeit oder militärische Geschicklichkeit oder was auch immer zu bekommen.«
Selene war enttäuscht. Seit Tantalos und seine Anhänger vernichtet worden waren, hatte sich Rourke wieder in den Tower zurückgezogen. Waren all die Gefühle, die sie füreinander gehabt hatten, bei ihm abgeklungen? Schmerzhafterweise war das bei ihr nicht geschehen.
»Ähem«, machte sich jemand direkt hinter ihnen bemerkbar.
Selene hielt inne, voller Angst, sich umzudrehen, voller Angst, enttäuscht zu werden.
»Avenage«, rief die Königin aus. »Ich kann nicht glauben, dass Sie hier sind.«
Er glitt neben sie.
»Majestät«, sagte er anstelle einer Begrüßung. »Selene.«
Zusammen gesellten die drei sich zum Rest der Gruppe. Selene nahm ihren Platz zwischen Leeson und Rourke ein, und ihr war beinahe schwindlig von seiner bloßen Anwesenheit.
Momente später hob die Königin einen Orden hoch, der mit einem glänzenden, goldenen Band versehen war, und befestigte ihn an Leesons geschwellter Brust. »In Anerkennung Ihrer Tapferkeit, Mr Leeson. Seien Sie unseres aufrichtigsten Danks versichert.«
»Ich danke Ihnen, Majestät.«
Viktoria tat das Gleiche mit Selene und murmelte einige persönliche Worte, während sie einen Orden an die Schulter ihres Gewands heftete.
»Lieber Avenage …«, begann die Königin.
»Bitte, haltet mich nicht für impertinent oder rüde, aber ich bin heute Abend nicht hier, um einen Orden abzuholen.«
»Ach nein?« Viktoria zog die Augenbrauen hoch. »Warum sind Sie dann hier?«
Selene hielt den Blick auf die funkelnde grüne Schmetterlingsnadel in Helenas blondem Haar gerichtet.
»Selene …«, sagte Rourke leise.
Am Rande ihres Gesichtsfelds sah sie, dass er ihr den Kopf zuwandte.
Ein Beben durchlief ihren Körper. Etwas in seiner Stimme …
»Ich bin wegen Selene gekommen.«
Ein Murmeln ging durch den Raum. Archers Augen weiteten sich. Helena drückte sich eine Hand auf den Mund. Mina ergriff Marks Arm.
Langsam wandte Selene den Kopf Rourke zu. Ihre Blicke trafen sich.
Entschieden wiederholte er: »Ich … bin …
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