Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
gesehen – so viele, in den schlimmsten Zuständen. Aber er hatte in die Augen dieser jungen Frau gesehen. Er hatte ihr Hoffnung geschenkt … und sie hatte dasselbe für ihn getan. Dass sie von irgendeinem Ungeheuer zu einem Puzzle abgeschnittener Körperteile gemacht worden war, erfüllte ihn mit Zorn.
Mark ließ Selene mit den Beamten allein und schoss durch die Halle. Er rauschte in ein leeres Büro, nur gerade lange genug, um in seine menschliche Gestalt zu schlüpfen, dann schritt er auf die Straße hinaus. Dort, die Hand fest auf eine Ziegelsteinsäule gedrückt, atmete er die Gerüche der Stadt ein und ersetzte damit den Duft des Todes in seiner Nase und in seinen Lungen. Trotzdem, der Gestank haftete an seinen Kleidern und seiner Haut, genauso stark, wie die Erinnerung an das Mädchen seinen Geist forderte. Sie war ein schlichtes Mädchen gewesen, aber einen solch schrecklichen Tod hatte sie nicht verdient. Klebte ihr Blut an seinen Händen?
Er hatte diesem Mädchen aus Arroganz geholfen, um der Dunklen Braut zu zeigen, dass er die Kontrolle hatte. Hatte er damit Elizabeths Todesurteil unterzeichnet? Ja, sie war erpicht darauf gewesen, sich selbst zu töten, aber gewiss musste die Dunkle Braut gewusst haben, dass er irgendwann die Identität des Opfers erfahren würde. Konnte sie ihm eine deutlichere Botschaft schicken, dass sie diejenige war, die immer noch die Oberhand hatte?
»Tu das nie wieder.«
Mark drehte sich um. Selene starrte ihn von der obersten Stufe aus an.
Sie trug ein kostbares braunes Seidenkleid und einen entzückenden Strohsommerhut, prächtig geschmückt mit orangefarbenen und grünen Blumen und Bändern. Wie immer sah seine Zwillingsschwester aus wie eine Königin, selbst in der makabersten Umgebung. Wer sonst würde so etwas tragen, um sich eine Leiche anzusehen?
»Ich kannte dieses Mädchen«, gab er düster zurück. »Jetzt habe ich auch ein persönliches Interesse in dieser Angelegenheit.«
»Du hast gar nichts«, zischte sie. »Wag es ja nicht, je wieder einen Fuß in mein Territorium zu setzen. Du gehörst nicht länger zu den Schattenwächtern, also hast du kein Recht dazu.«
»Ich versuche nicht, dir deinen Auftrag zu stehlen.«
»Das könntest du auch nicht, selbst wenn du dich bemühen würdest.« Dann hetzte sie davon.
Er holte sie ein und ging neben ihr her. »Weißt du überhaupt, wer dein Mörder ist?«
Sie warf ihm einen dunklen Blick zu.
»Ich bin ihm gestern Nacht begegnet.«
Sie wirbelte zu ihm herum. Die silberne Handtasche an ihrem Arm blitzte auf. »Hast du auch ihre augenrollenden kleinen Kriecher gesehen?« Sie hob die Arme und wackelte mit dem Zeigefinger über ihren Augen. »Die Dunkle Braut. Sie wünscht, dich kennenzulernen«, spottete sie.
Selene hatte sich immer sehr gut darauf verstanden, andere nachzuahmen.
Mark richtete sich enttäuscht auf. »Ich sehe, du hast sie bereits getroffen.«
»Flüchtig, bei mehreren Gelegenheiten. Hinter dir ist sie nur her, weil« – Selene legte die Hand an den Mund, als teile sie ihm ein Geheimnis mit – »sie keine Mädchen mag, wenn du verstehst, was ich meine. Oh, und du verlierst außerdem deinen unsterblichen Verstand, was dich in ihren Augen zu erstklassigem Männerfleisch macht. Ich bin mir sicher, dein Stammbaum und dein von der Familie vererbtes gutes Aussehen schaden auch nicht.«
»Was weißt du über ihre wahre Identität?«
Selene antwortete scharf: »Das geht dich verdammt noch mal nichts an.« Mit ihrem Zeigefinger stach sie ihm in die Brust. »Sie ist mein Ziel. Meins. Nicht deins. Gerade du, als einer der … nun, exkommunizierten Schattenwächter solltest verstehen, dass die Grenzen respektiert werden müssen, es sei denn, du bist bereits zu weit hinübergeraten, um dich daran zu erinnern.«
»Das bin ich nicht«, gab er zurück. »Und ich erinnere mich sehr genau.«
Jack the Ripper war ursprünglich sein Auftrag gewesen. Aufgrund einer persönlichen Bitte ihrer Majestät, Königin Victoria, hatte Archer, ihr langjähriger Favorit, in die Jagd eingegriffen. Das rücksichtslose Eindringen in sein Jagdterritorium hatte geschmerzt.
Selene blinzelte und schaute auf die andere Straßenseite hinüber. »Ich nehme an, das ist dann alles, was wir einander zu sagen haben.«
»Nicht ganz.« Er ging um sie herum, sodass sie einander unmittelbar gegenüberstanden. »Du hast recht. Die Jagd gehört dir. Und ich gehe fort. Ich verlasse England. Wenn ich zurückkehre, werde ich so gut wie
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