Shadows Lost (Vampirkurzgeschichte)
im hinteren Teil der Lagerhalle eine Eisentür. Sie war ebenso stark abgesichert wie der Haupteingang. Nachdem sie die Schlösser geöffnet und den Zahlencode eingetippt hatte, trat Cathrine in einen kleinen Raum ein.
Sofort schlug ihr der vertraute Duft von Jasmin, altem Leder und noch älterem Holz in die Nase. Seufzend schloss sie die Augen, und ihre Nervosität wurde durch alte Erinnerungen gemildert. Hier fühlte sie sich in Sicherheit, hier war ihr eigentliches Zuhause. An diesem Ort verwahrte sie alles, was ihr bisheriges Leben widerspiegelte.
Der Raum besaß keine Fenster, nur eine kleine Deckenlampe. An zwei Wänden standen Schränke und Regale, alles vollgestellt mit uralten Büchern, die sie im Laufe der Jahrhunderte gesammelt hatte. Die beiden freien Wände boten Platz für Gemälde und unzählige Fotografien. Viele der Schwarzweißfotos zeigten Cathrine. Auf einem war sie in Indien, beim nächsten in Australien, auf dem übernächsten bei einer Expedition am Amazonas, und so ging es weiter und weiter. Auf manchen war sie mit längst verstorbenen Freunden zu sehen. Alte Holztruhen und Schrankkoffer türmten sich in der Mitte auf und beherbergten Cathrines heiligsten Besitz. Darin befanden sich ihre wichtigsten Erinnerungsstücke.
Widerwillig riss sie sich aus ihren Erinnerungen. Jetzt standen erst einmal bedeutsamere Dinge an, denn der Priester würde schon bald eintreffen. Wenn die Nuskuanhänger es wirklich wollten, könnten sie Cathrine mit einer ihrer heiligen Waffen töten. Doch so einfach wollte sie es ihnen nicht machen. Was sie nämlich nicht wussten, Cathrine war nicht völlig schutzlos. Trotzdem widerstrebte es ihr, darauf zurückgreifen zu müssen.
Aber hatte sie eine andere Wahl?
Zielstrebig hielt sie auf eine schmale, unscheinbare Holztruhe zu, die abseits von den anderen stand. Sie griff in ihre Hosentasche und holte einen dicken Eisenschlüssel heraus. Die Patina verriet, dass er schon sehr alt war. Ein ausgeklügelter Mechanismus aus dem späten 16. Jahrhundert schützte den Inhalt besser, als es ein Zahlencode könnte. Das offensichtliche Schloss war nämlich eine Finte. Stattdessen steckte Cathrine den Schlüssel in ein verstecktes Schloss, das sich auf der Rückseite befand und durch eine alte Eisenniete nicht als das zu erkennen war. Cathrine musste Kraft aufwenden, um den alten Schlüssel in dem verrosteten Schloss umzudrehen, was aber für sie kein großes Problem darstellte. Schließlich war die Truhe offen.
Vorsichtig griff sie hinein und nahm ein schwarzes Samtkisschen in die Hand, darauf lag eine kleine Glasphiole. Der Inhalt war schwärzer als die Nacht. Mit gemischten Gefühlen starrte sie die zähflüssige Substanz an. Eigentlich hatte sie sich vor langer Zeit geschworen, niemals auch nur einen Schluck davon zu sich zu nehmen. Aber das Treffen mit dem Priester erforderte eine außergewöhnliche Maßnahme. Mit dem Fläschchen setzte sich Cathrine auf eine der Holztruhen und wurde an die Nacht erinnert, als sie es zum ersten Mal sah. Es war die Nacht, als ihr Meister sie für immer verlassen hatte. Er hatte ihr einen Teil des Blutes des Schattendämons Rabisu hinterlassen. Das kostbarste Abschiedsgeschenk, das er ihr hatte machen können. Es war mehr wert als Gold und Edelsteine zusammen – es war unbezahlbar. Den Brief, den sie damals dabei fand, besaß sie nicht mehr, aber die Worte hatten sich ihr ins Gedächtnis gebrannt.
»Dies ist das dämonische Blut unseres aller Vaters. Verwahre es gut und beschütze es mit deinem Leben. Setze die Kräfte weise sein. Das Blut verleiht dir Rabisus Stärke und Widerstandskraft. Aber vergiss nicht, nur für kurze Zeit hält die Wirkung an. Doch wisse, für diese Zeit bist du für jeden von uns im Schatten sichtbar.«
Seufzend entkorkte Cathrine die Phiole.
Das Blut barg Vor-, aber auch Nachteile. Vorteil war, dass sie durch die dämonische Essenz für die Waffen der Nuskuanhänger unempfindlich und so gut wie unverletzbar war. Der Nachteil war allerdings, dass sie für die nächsten achtundvierzig Stunden sprichwörtlich auf dem Präsentierteller saß. Der Schatten würde ihr vor anderen Vampiren nicht mehr genügend Schutz bieten. Normalerweise war sie stets in der Lage, ihre Anwesenheit und Spuren in der Schattenebene vor anderen ihrer Art zu verbergen und zu verwischen. Aber mit Rabisus Blut würde sie wie ein Leuchtfeuer in finsterer Nacht leuchten, und damit jeden Vampir in ihrer Nähe auf sich aufmerksam machen. Eine
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