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Shakespeare erzählt

Shakespeare erzählt

Titel: Shakespeare erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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noch einen Schluck.«
    »Einen auf mich«, sagt Jago und schenkt noch einmal ein, »und dann noch einen auf dich!«
    Und so macht Jago den Michael Cassio betrunken. Oder besser gesagt: So läßt sich Michael Cassio von Jago betrunken machen. Jago weiß, er kennt ja den jungen Leutnant: Wenn der betrunken ist, neigt er zum Jähzorn.
    Ein Lied singen sie noch, die beiden, die guten Kameraden. Und dann sagt Jago: »Ich werde wieder hineingehen zu den anderen. Ich komme später noch einmal!«
    Er geht ab und gibt dem Rodrigo ein Zeichen. Aber noch bevor Rodrigo den Leutnant anspricht, ruft Jago einen Haufen Soldaten heran. Er braucht Zeugen. Und er selbst? Er wird nicht dabeigewesen sein.
    »Guten Abend«, sagt Rodrigo.
    »Guten Abend«, sagt Michael Cassio.
    »Gut getrunken?« fragt Rodrigo.
    »Was?« sagt Michael Cassio.
    »Ich meine nur, weil Euer Rock so riecht.«
    »Wie?« sagt Michael Cassio.
    Rodrigo geht ganz nahe an ihn heran und kippt ihm sein Glas Wein auf die Brust.
    »So!«
    Und nun geht’s los. Michael Cassio schlägt sofort zu. Schon liegen die beiden am Boden, wälzen sich, Rodrigo brüllt, das ist der Lärm, den er machen soll. Michael Cassio brüllt, das ist der Lärm, den er immer macht, wenn er zornig ist.
    Die Soldaten drängen herbei, die Fenster der Zyprioten fliegen auf, Schlafmützen, Schnauzbinden, ungeschminkte Gesichter bebildern die Fensterrahmen – ein Mordstumult.
    »Da behaupten die Venezianer, sie sorgen für Ruhe und Ordnung, und dann das!«
    Und es ist wahr – heute ist Othellos und Desdemonas offizielle Hochzeitsnacht, und Othello hat den Michael Cassio vor allem deshalb auf die Wache geschickt, damit Ruhe ist und der General in Ruhe lieben kann. Und nun dieser Lärm! Er läuft hinunter auf die Gasse.
    »Was ist hier los?«
    Othello findet seinen Leutnant sturzbetrunken. Alle bezeugen, der Leutnant hat angefangen, hat auf einen Mann, der ihn nur gegrüßt hat, einfach eingeschlagen.
    Othello ist empört, empört und enttäuscht. »Ich habe dich zum Leutnant gemacht, habe dich einem anderen vorgezogen, und du hast bei der ersten Aufgabe bereits versagt.«
    Othello nimmt keine Erklärungen an. Er degradiert den Leutnant. Michael Cassio behält den Mund zu und schluckt die Spucke hinunter und dient wieder als Fähnrich. Und wer kriegt den Leutnantsposten? Wer wohl.
    »Jago, bist du bereit?«
    »Jawohl, mein General.«
    Wäre Jagos Bosheit im unteren Bereich des Durchschnitts angesiedelt, dann hätte die Geschichte hier ihr Ende gefunden. Er hat erreicht, was er wollte: Er ist Leutnant geworden. Sein Rivale wurde außerdem gedemütigt. Ersteres für die Gerechtigkeit, das andere fürs Gemüt. Das wäre Ausgleich in halbwegs zivilisierter Form. Aber Jago ist eine durch und durch destruktive Persönlichkeit.
    Jago wünscht sich nicht etwas Gutes für sich, er wünscht sich etwas Schlechtes für den anderen. Und er hat es ja nicht auf Cassio abgesehen, sondern auf Othello. Sein Destruktionstrieb folgt archaischen Reflexen. Reiz des Nervensystems: Ich werde angegriffen. Reaktion des Organismus: Angreifer vernichten. Für den Angreifer gibt es in diesem System nur zwei Möglichkeiten – entweder seinerseits den Angegriffenen vernichten oder restloser Rückzug aus dessen Revier.
    Othello kann nicht erkennen, in welche archaischen Muster Jagos Gefühlswelt eingesponnen ist. Jagos Rachebedürfnis kennt nur eine Befriedigung: die Vernichtung. Und das heißt: Othellos Tod und die Zerstörung all dessen, was er liebt. Othellos Phantasie reicht nicht aus, sich so etwas vorzustellen – noch reicht seine Phantasie nicht aus. Jago hat keine reale Macht, und er weiß das. Die Macht der Machtlosen ist die Intrige. Wenn es so etwas wie eine Religion der Intrige gibt, dann ist Jago ihr Stifter.
    Michael Cassio wird nüchtern.
    »Was habe ich nur getan? Ich habe das Vertrauen meines Herrn und Freundes mißbraucht!« Er ist untröstlich, reißt sich an den hübschen Locken.
    Jago läßt Michael Cassio nicht im Stich. Mögen die anderen auf Distanz gehen, Jago nicht.
    »Oh, wie mir das leid tut!« sagt er. »Es ist meine Schuld! Ich habe dich verführt! Ich weiß doch noch, was du gesagt hast: Ich kann nicht, ich will nicht. Und ich? Ich dräng dir den Wein auf!«
    »Ich bin ein erwachsener Mann«, verteidigt Michael Cassio den Feind, den er für einen Freund hält. »Du kannst nichts dafür, Jago.«
    »Auch ich bin ein erwachsener Mann«, schlägt sich Jago an die Brust, »und ich weiß, wann ich schuldig

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