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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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an die Schläfe und krümmte mehrmals rasch den Daumen. Seltsamerweise grinste er dabei. »Und Sie mussten es mit ansehen?«, fragte ich.
    Er winkte ab. »Na, so alt bin ich nun auch wieder nicht. Meine Mutter war im zweiten Monat schwanger mit mir; sie hatten noch nicht einmal geheiratet. Aber ihr Schock, das ist mein Herzkasper geworden. Tja, und dann hat sie mich allein großgezogen, bis Kriegsende. Wir haben schon heimlich Russisch gelernt, als die Sowjets noch hinter Warschau lagen. Deswegen wurde sie auch nicht vergewaltigt; wir konnten in der Wohnung bleiben, und immer hatten wir Kohl.« Er zwinkerte mir zu. »Man muss schlau sein, oder?«
    Ich nickte, nahm ihm den Atlas ab und legte ihn auf seinen alten, von Typoskripten übersäten Schreibtisch. Vor dem Faxgerät stand eine knapp zehn Zentimeter hohe Büste, ein schmutzig-gelber Lenin mit leeren Augenhöhlen und einem Spitzbart wie ein Keil, und als ich ihn in der Hand wog, sagte Dr. Wagner: »Ein Geschenk aus Mozambique. Dem sozialistischen natürlich. Ich glaube, es ist sogar Elfenbein.«
    Er gähnte, wobei sein Gebiss verrutschte. Dann wies er auf das Bier neben der Terrine. »Nett von Ihrer Tante, ich lasse danken. Aber trinken Sie das mal. Mir würde das Blut schäumen bei all den Medikamenten, die ich intus habe.« Grinsend leckte er sich die Unterlippe, eine blitzschnelle Bewegung der Zungenspitze, und plötzlich funkelte es hinter der Brille. »Und am Ende, wer weiß, suche ich mir auch so einen Lustknaben für die Nacht.«
    Fast war ich froh über diesen Ton und stellte den Lenin, der übrigens nackte Schultern hatte, auf den Tisch zurück. »Na, warum nicht?«, sagte ich. »Das täte vielleicht dem Herzen gut.«
    Doch Dr. Wagner schüttelte den Kopf. Er nahm sich die Kissen aus dem Rücken und sank ächzend tiefer. »Dem was? Sie haben Vorstellungen, junger Mann.« Mit dem Daumen tippte er gegen die Narbe auf seiner Brust; man konnte die groben Einstiche sehen. »Hühnchen haben sie mich in der Ruschestraße immer genannt. Da ist kein Herz mehr. Da sind ein paar Drähte und Schläuche, eine Batterie, und aus.« Dann zog er sich die Wolldecke bis unters Kinn.
    Nach diesem Gespräch war die Stille in den Gärten, die ich abends bei einem Glas Merlot genoss, nicht mehr dieselbe. Schien sie sich früher oft in so etwas wie eine mystische Substanz verwandeln zu wollen, unfassbar und nur vage zu beweisen dadurch, dass die Sterne hier etwas heller strahlten als über der Stadt, kam sie mir nun manchmal beklemmend vor, schauerlich auch, als bestände sie ganz aus erstickten Stimmen. Und dann war ich froh über das jähe Fauchen der Schwäne auf dem See oder das Rauschen eines Güterzugs jenseits der Wälder.
    Immer öfter fraß die Arbeit halbe Wochenenden weg, und so wurde mir die sonntägliche Teestunde mit meiner Tante zur lieben und erholsamen Gewohnheit, gerade weil unser Plaudern nur ein Austausch der üblichen Floskeln und guten Wünsche blieb, ein »Hauptsache gesund!« in allen Variationen – wobei sie manchmal kicherte, als unterhielten wir uns in einer raffinierten Geheimsprache über etwas ganz anderes. Dann glaubte ich eine fast anarchistische oder frivole Untiefe hinter ihrer Tantenhaftigkeit zu erkennen, was mich ähnlich faszinierte wie die Entdeckung, dass es religiöse Buchhandlungen in Ostberlin gegeben hatte, oder eben einen Lehrstuhl für so etwas Zartes wie Vogelkunde. Als ich sie bei der Gelegenheit fragte, was eigentlich in der Ruschestraße gewesen sei, musste sie eine Weile nachdenken. »Ach so«, sagte sie schließlich: »Wie konnte ich das vergessen. Da war mal die Poliklinik der Stasi. Die haben sogar deinen Onkel behandelt.«
    Ich tunkte meinen Streuselkuchen in den Tee. »Im Ernst? War der denn auch bei der Firma?«
    Sie machte große Augen. »Um Gottes Willen! Nein, er hatte einen Schlaganfall, seinen ersten, und damals dauerte es ewig, bis ein Notarzt kam. Also packte Dr. Wagner ihn in seinen Lada und raste dorthin. Wir mussten keine Minute warten, er wurde gleich behandelt, und das hat ihm vermutlich das Leben gerettet. Für eine Weile jedenfalls. Darf gar nicht dran denken ... Bei uns wurde der Kaffee mit Erbsenmehl verlängert, und die hatten Palmen im Foyer. Es gab eine Bar mit Sekt und Capuccino, gratis, und an dem Kiosk konnten die Beamten Westwaren kaufen – für Ostmark, eins zu eins. Warum fragst du? Baut ihr da auch?«
    Zwei Tage später aß ich mit Dirk in der »Spindel«, und als ich ihm sagte, dass er

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