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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Mannes und ihrer Söhne aufzuwischen.«
    Was man auch sagte und wie richtig es klang – mit der bedeutungsvollen Pause, die er bis zu einer Antwort verstreichen ließ, wollte er einem offenbar nicht nur Gelegenheit geben, den eigenen Irrtum einzusehen; in diesem geistigen Vakuum sollte man sich auch dümmer fühlen, als man tatsächlich war. Kopfschüttelnd zerrte er an den Revers seines neuen Pyjamas herum. Irgend etwas schien ihn zu jucken.
    »Das sieht euch ähnlich«, sagte er. »Ihr macht aus allem ein Fernsehspiel, oder? Aber dass ein Mensch Ideale hat, die mehr bedeuten als Geldverdienen und Bentley fahren, dass er sein Leben nach ihnen ausrichtet, glauben Sie denn, das kommt aus der Luft? In unzähligen Leiden wurzelt das, junger Mann, und jedes – jedes einzelne! – bedeutet alles, ein Katalysator in der Geschichte.« Erneut griff er sich in den Nacken, jetzt mit beiden Händen. »Verdammt noch mal, was ist das hier? Was haben die mir wieder angedreht!« Da beugte ich mich vor und riss ihm das Preisschild aus dem Kragen.
    »Danke!« Er schraubte eine Flasche Wasser auf. »Mein Vater, ein schlichter Metzgergeselle, der seine Rosen im Vorgarten liebte, alte Stöcke, und nichts weiter wollte vom Leben als ein kleines Familienglück und ein bisschen soziale Gerechtigkeit, musste da drüben in der Breestpromenade sterben, weil er in der Gewerkschaft war. Wenn ich das nicht vor Augen gehabt hätte, wäre ich vielleicht auch in den Westen gegangen, kann sein. Aber ich wollte nicht in einem Land leben, in dem die Faschisten schon wieder Richter, Minister oder gar Kanzler waren. Ich wollte mithelfen beim Aufbau einer Gesellschaft, in der solche Bestien keinen Platz mehr haben.«
    Sein Blick hatte sich verdunkelt unter den zusammengezogenen Brauen; die Hand mit der Seltersflasche zitterte, und er keuchte leise, als er trank. Doch auch ich war plötzlich verärgert über eine Auffassung der Geschichte, die ohne Selbstzweifel auskam und in der die Worte Stalin, Stacheldraht und Bautzen offenbar nicht existierten. An die Hinrichtungspraxis in der DDR musste ich denken, den unvermuteten Schuss ins Genick, und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, die auch seine Vergangenheit betraf, als ihm etwas Wasser auf die Jacke schwappte. Da konnte ich die Narbe durch das dünne Gewebe sehen, den violetten Strich, und reichte ihm ein Papiertaschentuch.
    Ich bin für den Nachdruck nicht geschaffen. Am Ende biegt sich wohl jeder seine Biografie ins Goldene hinein. Ich trat an seinen Schreibtisch und blickte über den Hof. Die Tür und alle Fenster der Remise standen offen, und nirgendwo brannte Licht. Nur auf dem Bildschirm meines Notebooks, das zwischen dem schmutzigen Geschirr in der Küche stand, gingen die Sterne endlos auf und endlos unter. »Es wird leider Zeit«, sagte ich. »Die Arbeit wartet. Lassen Sie mich wissen, wenn ich Ihnen helfen kann, okay? Hier neben dem Telefon liegt meine Karte. Ich bin ganz passabel im Vorlesen, glaube ich; meine Tochter hat es jedenfalls immer gemocht. Und ich habe eine sehr gute Sekretärin, die könnte Ihnen was tippen. Das geht rapp-zapp.«
    Er trank noch einmal, bei geschlossenen Augen, und hob eine Hand, ein stummer Gruß. Die Finger waren an den Knöcheln geschwollen, und zum ersten Mal fiel mir sein Ehering auf.
    Indessen nahmen auf dem Bau die Schwierigkeiten zu. Mit ansteigendem Termindruck wurde deutlich, dass ich Architekt bin, ein Mann des Entwurfs und der Planung und nicht der Durchführung. Dem ganzen rumpelnden Ballett aus an- und abrückenden Handwerker- und Hilfsarbeiterkolonnen, Erdbewegungen, Baustofflieferungen und durchdrehenden Maschinen konnte ich keine überzeugende Choreografie geben, und die Achtung der Vorarbeiter schwand – was denen in Düsseldorf natürlich nicht entging. Mein mögliches Scheitern an diesem Projekt gehörte zu ihrem Kalkül, und manchmal war ich abends so erledigt, dass mir der krumme Gartenweg zwischen den Hortensien endlos erschien, fast nicht mehr zu schaffen, und ich im Auto sitzen blieb und auf das kleine Haus meiner Tante starrte.
    Inmitten wuchtiger Jugendstilvillen und Designerkisten aus Holz und Glas auf eine tröstliche Weise schief anmutend, erinnerte mich vieles an ihm und seiner soliden Ausführung an den Geist meiner Lehrzeit, als man noch von menschlichem Maß sprach und die alten Poliere den Geschmack der Erde prüften, ehe sie über die Tiefe der Fundamente entschieden. Als man Schicht für Schicht mit Ziegeln im

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