Shakespeares Hühner
gut informiert über meine Arbeit am Adlergestell, dem Neubau umgrünter Wohntürme, in denen es sogar Lifte für Autos gab. Er kannte unsere Probleme mit den Altlasten – der Boden war voller Munition –, die voraussichtliche Dauer der Richtzeit und die Höhe der Vertragsstrafe, falls wir den Termin nicht hielten, eine Millionensumme. Und er wusste, dass ich pleite war. »Aha«, murmelte ich und blickte demonstrativ auf das Handy. »Sie haben meine Tante also schon verhört?«
Den hartlippigen Mund geöffnet, umfasste er seinen Unterkiefer mit Daumen und Zeigefinger, als prüfe er den Sitz der Prothese. Dann schloss er einmal kurz die Augen. »Ich verhöre niemanden, mein Herr. Das war und ist nicht meine Sache. Ich hatte Außenhandelsbeziehungen zu regeln, einen winzigen Teil davon.« Er wies auf mein Nummernschild. »Manchmal sogar in Düsseldorf. Schöner Ort, besonders an den Rheinwiesen und in der Altstadt. Das wunderbare Bier, das man zu den Broilern und Mettbrötchen kriegte! Fast so gut wie unser Köstritzer. Aber die Menschen waren nicht mein Fall, ehrlich gesagt. Alles ein bisschen zu protzig, schon damals. Die Geschmacklosigkeit wohlhabender Düsseldorfer wird nur von neureichen Russen überboten, finden Sie nicht? – Ich mochte Duisburg lieber. Duisburg gefiel mir. Die Menschen hatten was Reelles.«
Es war viel zu früh, um schon dickfellig zu sein, und ich atmete tief. »Oh, das haben sie immer noch«, sagte ich. »Besonders wenn sie einem die Schnapsflasche über den Nacken ziehen, auf der Fronleichnam-Kirmes etwa. Und bei aller Kultiviertheit ist es auch noch heimelig in Ihrem Duisburg: Die unzähligen Schlote und Kühltürme in der würzigen Luft, die rauchenden Halden und der brackige Kanal ... Fast so schön wie in Bitterfeld.«
Die Sonnenpunkte hinter den Lesefenstern seiner Brille glitten die Wangen hinab, als er den Kopf hob. »Nein«, sagte er entschieden. »Da muss ich widersprechen. In den achtziger Jahren roch es kaum noch wirklich arg. Außerdem hatte ich meistens am Hafen zu tun, und wo Schiffe sind, ist der Himmel sowieso blauer, nicht wahr? Wo Schiffe sind, ist Hoffnung.«
Ich verkniff mir die Frage, womit die DDR eigentlich Außenhandel betrieben hatte, von Waffen und Dissidenten einmal abgesehen. Das würde, dachte ich, eh nur mit einem mitleidvollen Lächeln oder mit dem Hinweis auf Meißner Porzellan oder Optik-Artikel aus Jena beantwortet werden. Dem Selbstbewusstsein, das er auf der Kinnspitze balancierte, mochte mittlerweile der Boden fehlen, nicht aber die historisch richtige und in seinen Augen nach wie vor gültige, vom Zeitgeist gerade nur ein bisschen eingetrübte Idee – und dass ich von der keinen Schimmer hatte, bewies vermutlich schon mein Auto.
Mir stand ein harter Tag bevor, dreihundert Kubikmeter Frischbeton, und ich öffnete die Tür, sank auf den Sitz. Doch wenn er diese Abruptheit unhöflich fand, überspielte er das nicht schlecht. Im Park jagten sich zwei Eichhörnchen über den Rasen, ein wildes Zickzack, bei dem die Tautropfen flogen, und er reckte den Arm, sah auf die Uhr und sagte mit einer Miene, in der ich etwas von der Rechtwinkligkeit seiner Schreibtischplatte zu erkennen meinte: »Sie sollten hier übrigens nicht die Zeit verplaudern, Herr Ingenieur. Sie müssen ans Werk!«
Wir arbeiteten mit einem Architekturbüro aus Mitte zusammen, und der Statiker, der ab und zu auf die Baustelle kam, war gut zehn Jahre jünger als ich, Anfang vierzig, und hatte weder einen Bauchansatz noch ein graues Haar. Er trug meistens dreiteilige Anzüge, ohne Krawatte, und wenn er sich im offenen Auto die Budapester Schuhe auszog und in seine Gummistiefel schlüpfte, konnte ich einen Moment lang die muskulösen Waden sehen. Dass die Statik, im Westen die Domäne stets bedenklicher Brillenträger in schlaffen Kitteln, hier von einem gutgelaunten Sportsmann überwacht wurde, belebte mich sehr, zumal er dezent nach »Allure« duftete, und beugten wir uns über die Pläne, um ein Detail zu besprechen, rückte ich oft näher an ihn heran als nötig.
Ohne dass sich dann etwas an seiner Sachlichkeit änderte, wich er keinen Millimeter zur Seite, was ich nicht ganz zu Unrecht als Entgegenkommen deutete. Manchmal, im Gespräch, zog er seinen Ehering etwas vor und tat, als würde ihn die Haut darunter jucken, und eines Abends gingen wir zusammen essen. Dirk hieß er und lachte trotz seiner abenteuerlich schiefen Zähne hemmungslos und fast ein bisschen dreckig, und nachdem wir
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