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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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offenbar richtig gelegen habe mit seinem Verdacht, Dr. Wagner betreffend, hob er nur eine Braue. »Ich sehe ihnen weniger an, was sie gemacht haben; selbstgerechte Gesichter gibt es auch im Westen genug«, sagte er. »Ich sehe ihnen vielmehr an, dass sie und ihre abertausend Informellen Mitarbeiter es jederzeit wieder tun würden, und das ist das eigentlich Deprimierende. Konzepte und Programme sind immer eine Form von Beschränktheit. Die haben ihre Gehirne damals ausgeschaltet und leben auch jetzt noch ohne jede Reue, hohle Haut-und-Knochen-Säcke, absolut empfindungslos. Aber was soll’s, letztlich wären sie ihren Emotionen auch gar nicht gewachsen. Das hat man nicht gelernt bei uns.« Er stieß sein Glas gegen meins. »Na komm, trink aus. Wir müssen was tun ...«
    »Ach ja?«, fragte ich grinsend. »Etwas Wichtiges?«
    Er nickte. »Auch Luftschlösser haben ihre Statik.«
    Der Sommer wurde ungewöhnlich heiß; wenn man nicht aufpasste, trocknete der Beton schneller, als er abbinden konnte. Meine Tante verließ kaum noch das Haus, und auch Dr. Wagner schien es schlechter zu gehen. Auf der Fensterbank standen kleine Sauerstoffflaschen, eine ganze Batterie, und in der Mülltonne lagen Plastikspritzen und Katheter. Manchmal, wenn ich von der Arbeit kam, parkte ein Kombi mit der Aufschrift »Mobile Hauskrankenpflege, Diabetikerversorgung und Wundmanagement« vor der Tür, und eines Abends, ich saß seit Stunden am Küchentisch und hatte genug von den Summen und Maßen auf meinem Bildschirm, ging ich über den dunklen Hof und klopfte bei ihm an.
    Sein »Ja, bitte?« klang zwar etwas zittrig, doch dann schien er sich zu freuen. Er schlug das Plaid zur Seite, setzte sich auf und knipste eine zusätzliche Lampe an. Der blassblaue Schlafanzug mit der feinen Paspelierung war offensichtlich neu. »Danke«, antwortete er auf meine Frage nach dem Befinden und strich über die Knickfalten auf seiner Brust. »Solange ich noch klagen kann, geht’s gut. Nehmen Sie doch Platz.«
    Ich räumte ein paar Bücher und Akten von dem Sessel, und er schmunzelte. Obwohl ich ihn lange nicht mehr auf seinem Spähposten am Schreibtisch gesehen hatte, war er genau im Bild über meine Besuche. »Bei Ihnen brannten gestern ja noch lange die Kerzen«, sagte er. »Und nicht nur das, nehme ich an. Hatten Sie mir nicht erzählt, dass sie verheiratet waren? Was sind Sie denn jetzt, verkehrt herum oder normal?«
    Achselzuckend wies ich auf den dicken, von einem Gummiband zusammengehaltenen Stapel Manuskriptblätter neben dem Telefon. »Im Moment bin ich eher müde. Was macht denn die Arbeit? Kommen Sie zurande mit Ihrem Buch, Genosse Major?«
    Er tat, als hätte er das nicht gehört – oder war es ihm am Ende gar nicht aufgefallen? »Im Prinzip schon, die Rohfassung steht«, sagte er und kratzte sich den Nacken. »Doch je länger man forscht, desto verwickelter wird alles. Tag und Nacht korrespondiere ich wegen der Liste der Toten und Verwundeten, und die nächste Telefonrechnung möchte ich nicht sehen. Aber die Vergesslichkeit ist ein Monster, mit einem Riesenappetit ... Die wenigen Augenzeugen, die es noch gibt, sind weit über achtzig und meistens schwerkrank, und die drei oder vier Historiker, die sich überhaupt mit der Köpenicker Blutwoche beschäftigt haben, wissen auch nicht mehr als ich, die Westler schon gar nicht. Meine einzige Hoffnung sind ein paar Genossen, die früher in unseren Archiven saßen. Und eins kann ich Ihnen versprechen: Dieses Buch wird das erste sein, das ausnahmslos alle Opfer erfasst. Vorher trete ich nicht ab.«
    Er hatte Schatten unter den Augen, die schmalen Lippen waren graublau, und obschon ich ihm natürlich recht gab und seinen Willen bewunderte – der buchhalterische Eifer, mit dem er das Entsetzliche in etwas Abzählbares verwandeln wollte, war mir auch wieder suspekt. Mit Fakten hatte ich schließlich den ganzen Tag zu tun, Fakten sind bestenfalls die Wirklichkeit; sie mögen hart oder unumstößlich oder nicht von der Hand zu weisen sein, aber am Ende kühlen sie einen aus. Die Wahrheit liegt woanders.
    »Ihre Opferliste in Ehren ...«, sagte ich. »Viel erschütternder fände ich es, wenn Sie ein paar der Details aufschrieben, von denen Sie mir das letzte Mal erzählt haben. Etwa, dass man die Weidenäste aus dem Erpetal, wo alle Welt sonntags spazieren geht, über Nacht ins Wasser legte, damit sie morgens, beim Totschlagen, wieder kräftig federten. Oder dass man die Putzfrau zwang, das Blut ihres

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