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Shakespeares Hühner

Shakespeares Hühner

Titel: Shakespeares Hühner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Rothmann
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Straßenkarten und Fotos von Gebäuden. Ich erkannte das Rathaus von Köpenick, seine schöne Ziegelgotik, die Bereitschaftswache in der Bölschestraße und das Forsthaus am See und erinnerte mich an die Worte meiner Tante: er arbeite an einem Buch über den Bezirk. Ich stopfte ihm zwei Kissen in den Rücken, legte einen Atlas auf seinen Schoß und stellte den dampfenden Teller darauf. »Und was genau schreiben Sie nun, wenn ich fragen darf? Einen Reiseführer?«
    Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Nachdem er den Löffel am Ärmel abgewischt hatte, rührte er in der Suppe, und ich weiß nicht, warum ich diese Pause schon wieder als Tadel empfand. Dabei war er wohl einfach nur hungrig. »Einen was?«, fragte er schmatzend. »Na ja, so könnte man es nennen. Eine Zeitreise ist es, also schreibe ich einen Führer in die Vergangenheit. In die dunkelste allerdings. Schon mal was von der Köpenicker Blutwoche gehört?«
    Kopfschüttelnd sank ich auf einen Sessel, und er nickte bedeutungsvoll, als habe er sich so was schon gedacht. »Nichts? Rein gar nichts? Stand das nicht in euren Geschichtsbüchern?« Wieder musste ich verneinen, und augenfällig genoss er das Terrain der Überlegenheit, das ich ihm damit einräumte; er beulte die Wange mit der Zunge aus. »Nun, das war eine üble Episode, wissen Sie. Dreiunddreißig, als die Faschisten an die Macht kamen, gab es natürlich längst eine schwarze Liste der Missliebigen und Linken im Bezirk, und vom 21. bis zum 26. Juni ist die SA Straße für Straße vorgegangen und hat sie aus den Häusern geholt. Dabei war man nicht zimperlich, klar. Es wurde geprügelt und geschossen, und wer in seiner Treuherzigkeit glaubte, er könne sich auf unsere Polizeiwache retten, kriegte es doppelt dick. Denn obwohl sie noch nicht unterm Hakenkreuz marschierten, lieferten die Beamten jeden Hilfesuchenden, verletzt oder nicht, prompt den Verbrechern aus. Und die machten kurzen Prozess.« Er zog etwas Knorpel zwischen seinen Zähnen hervor, legte ihn auf den Atlas. »Auch mein Vater ist umgekommen in der Woche.«
    Dann zerriss er ein Stück Brot, biss das Weiche von der Kruste. »Das tut mir leid«, sagte ich, und er blickte über den Brillenrand. Es gab einen winzigen grauen Punkt auf der linken Pupille.
    »Das will ich Ihnen gern glauben, Mister. Aber es stimmt schon traurig, wenn man sieht, dass der Großteil der Republik keine Ahnung hat von dem, was wirklich passiert ist damals – und darum auch nicht versteht, warum wir alles taten, damit es sich nicht wiederholt.«
    Mit dem Löffel zeigte er auf das Foto vom Köpenicker Rathaus. »Dahin sind sie verfrachtet worden; auch ins Gerichtsgefängnis und in verschiedene Sturmlokale der SA – sofern sie sich nicht geweigert haben. Dann massakrierte man sie eben gleich vor den Augen ihrer Frauen und Kinder. In langen Reihen wurden sie durch den Ort geführt, Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschafter, Liberale und auch schon die ersten Juden, und die fassungslosen Familienmitglieder gingen auf der anderen Straßenseite mit und durften sich doch nicht nähern. In dem bunt verglasten Saal, in dem Sie heute Ihren schicken Personalausweis kriegen, worin schon wieder alles für die Schergen von morgen steht, wurden sie mit Weidenästen verprügelt und gefoltert, tagelang; das Kreuzgewölbe der Gefängniskapelle hallte wider von den Schreien. Es gibt Berichte, nach denen die SA-Leute eimerweise herausgeschlagene Gehirne und abgeschnittene Finger, Nasen oder Genitalien in die Gosse kippten, vor die Hunde. – Aber davon will keiner was wissen bei euch. Wir haben die Täter vors Gericht gestellt, jedenfalls die, die man noch fassen konnte nach dem Krieg. Viele sind zum Tod verurteilt worden. Doch ihr ... Ihr hört lieber dem Leierkastenmann zu, wenn er vom rührenden Hauptmann von Köpenick singt.«
    Bei den letzten Worten hatte seine Stimme gezittert, die Lidränder wurden feucht, und er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Dann reichte er mir den leeren Teller, wobei der Löffel auf den Teppich fiel. Ich musste schlucken. »Aber Sie schreiben doch jetzt ein Buch darüber«, sagte ich ein wenig unsicher und bückte mich. »Das wird so manchem die Augen öffnen, oder? Was genau ist denn mit Ihrem Vater passiert?«
    Staub und Haare klebten an dem Metall, und er zupfte an seiner Halshaut herum und starrte so lange aus dem Fenster, bis ich mir schon wieder indiskret vorkam. Doch schließlich drehte er den Kopf, hielt sich zwei Finger wie einen Lauf

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