Shakespeares Hühner
eine Flasche Chardonnay und noch einen Schnaps an der Bar getrunken hatten, war er es, der unserer zaghaften Umarmung auf dem Parkplatz eine handfestere Berührung folgen ließ und sagte: »Fährst du vor?«
Seine Frau, eine Dolmetscherin, arbeite gerade in St. Petersburg, und so konnte er über Nacht bleiben und mich auf die Art wecken, die Helene nicht einmal in unserer gemeinsamen Jugend über sich gebracht hatte. Anschließend ging er nackt durch die Remise, klimperte auf dem Piano herum und kochte Kaffee, atemberaubend stark. Er stellte mir eine Tasse ans Bett, zündete zwei Zigaretten an, und als er sich herabbeugte, um mir den Rauch über die Brusthaare zu blasen, wurde mir klar, dass ich mich zu zeitig von der Liebe verabschiedet hatte.
Irgendwo läuteten Glocken. Die Sonne schien, die Schwalben flogen hoch. Es war Samstag, und wir frühstückten im Freien, unter den gestrengen Augen von Dr. Wagner, der vermutlich gerade zu Mittag gegessen hatte. Einen Zahnstocher zwischen den Lippen, blätterte er im »Neuen Deutschland«, und Dirk trank etwas Orangensaft und murmelte halb in sein Glas hinein: »Aha ...«
Als ich ihn fragte, was das zu bedeuten habe, lächelte er herb und blickte über die Dächer zum See. »Bis vor zwanzig Jahren war Friedrichshagen ein begehrter Bezirk bei den einschlägigen Offizieren«, sagte er. »Ein rotes Kapitel für sich. Die hatten alle Boote da unten, wie die Nazibonzen vor ihnen. Man wohnte schön beieinander im Hochhaus am Markt, das denn auch Stasi-Bunker hieß, und noch heute sind die Segelklubs voll von alten Tschekisten.«
Ich erzählte ihm, dass Dr. Wagner nichts mit dem Ministerium für Staatssicherheit zu tun gehabt habe und Beamter in der Außenhandelsmission gewesen sei, doch er grunzte spöttisch. »Ja, ja, euch Westdeutschen kann man das einreden. Jetzt wollen alle Unbeteiligte oder subversive Widerständler gewesen sein. Aber wir haben einen anderen Schliff im Blick, weißt du. Mein Vater war Pfarrer, ich durfte nicht mal Abitur machen deswegen, und oft standen wir am Fenster, er und ich, sahen uns die vorübergehenden Nachbarn an und zählten sie ab: Eins, zwei, Stasi. Eins, zwei, Stasi. Und wir hatten so gut wie immer recht, wie sich später herausstellte.«
Dann schob er das Geschirr weg und zog mich noch einmal ins Bett, wo er mir mit frechem Witz und eleganter Hemmungslosigkeit wie nebenbei die dumme Angewohnheit nahm, meine Wünsche auf das Maß ihrer Erfüllbarkeit herunterzukochen. Und gibt es etwas Heilsameres für einen Mann, als sich als guten und starken Liebhaber zu erfahren?
Am nächsten Montag, ich kam gerade von der Arbeit und nahm mir vor, das quietschende Gartentor zu ölen, winkte mich meine Tante herein und reichte mir ein Tablett. Eine Terrine Suppe, ein Körbchen Brot und eine Flasche Köstritzer standen darauf, und da sie in ihrem Alter nur mühsam Treppen steigen konnte, bat sie mich, es dem kranken Dr. Wagner zu bringen. – Ich war überrascht; am Morgen hatte er wie sonst an seinem Schreibtisch gesessen, Maschine geschrieben, in Büchern geblättert und Zeitungsartikel ausgeschnitten, doch sie schüttelte den Kopf. »Eine chronische Sache. Böse Geschichte.«
Die alten, an den Kanten rundgewetzten Holzstufen knarrten bei jedem Schritt, der Geruch nach Seife nahm zu, und kaum hatte ich an die Tür mit dem ziselierten Messinggriff geklopft, erklang ein fast heiteres »Immer herein!«. Von einem Plaid bis zu den Knien bedeckt, lag der Kranke auf dem Sofa seines Arbeitszimmers und hob die weißen Brauen. »Na, das nenne ich eine Überraschung!« Er klappte ein Buch zu, irgend etwas von Clara Zetkin. »Roomservice?«
Das Atmen machte ihm hörbar Mühe, und ich stellte das Tablett auf einen Stuhl und gab ihm die Hand; er hatte winzige Einstichstellen auf den Fingerkuppen. Seine fleckige Schlafanzugjacke war nicht ganz geschlossen; eine fast violette Narbe lief von der Mulde unter dem Kehlkopf senkrecht über die Brust, und während ich ihm etwas Linsensuppe auf den Teller schöpfte, erkundigte ich mich nach seinem Befinden. »Ach, na ja«, sagte er. »Die alte Pumpe. Die hat mich schon in der Kindheit getriezt. Nun gibt es zwar die besseren Medikamente ...« Er wies auf ein Sideboard, auf die Folienstreifen und Schachteln, die vor einer Reihe antiker Buddhas lagen. »Aber in all diesen Pillen tickt eine Zeit, die ich nicht mehr habe. Dabei wäre noch so viel zu tun.«
Überall auf dem Boden Aktenordner, und an den Wänden hingen
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