Shakespeares ruhelose Welt
haben. Sechsunddreißig Stücke sind aufgeführt, nur Perikles und Die beiden edlen Vettern fehlen. Das Folio ist die einzige verlässliche Quelle, die wir für rund zwanzig der Stücke haben. Ohne diesen Band hätten wir nicht Wie es euch gefällt (oder Die zwölfte Nacht ), Der Sturm oder Das Wintermärchen , nicht Julius Caesar oder Antonius und Kleopatra , Coriolanus oder Macbeth – auch die meisten der großen Frauengestalten Shakespeares wären uns unbekannt geblieben. In einem anderen Universum, in einer Welt ohne First Folio , wäre Shakespeare vor allem bekannt als Verfasser von Historienstücken, einer kleinen Abteilung von Komödien und einer eindrucksvollen, aber ebenfalls kleineren Reihe großer Tragödien: Romeo und Julia, Hamlet, König Lear, Othello .Und wir könnten auch nur sehr wenig vom «jakobäischen Shakespeare» lesen. Hätte auch dieser etwas andere Shakespeare die dominante Stellung, die er heute für uns innehat? Oder wäre er nur einer aus dem Elisabethanischen Triumvirat geblieben, der mit seinen dann sehr viel schmaleren «Collected Works» zwischen denen von Marlowe und Jonson rangieren würde?
Das sogenannte First Folio (London 1623), die erste Sammlung der Stücke, besorgt von John Heminges und Henry Condell, «allein um die Erinnerung an einen so würdigen Freund & Gefährten lebendig zu halten».
Schon der Folio -Band enthält, was man braucht, um einen Kult um den berühmten Schriftsteller aufzubauen: den Holzschnitt mit dem berühmten Portrait, die Widmung und den Brief an die Leser sowie Lobgedichte auf sein Genie: Shakespeare als «glücklicher Nachbilder der Natur», die «Seele des Zeitalters», «Frisch für alle Zeiten» – alles Formulierungen, die von seinen zeitgenössischen Bewunderern geprägt worden waren und Eingang fanden in das Folio . In einem Brief wenden sich Heminges und Condell mit einer Eloge auf Shakespeare direkt an die Leser:
«Wer, wie er ein glücklicher Nachbilder der Natur war, war auch ihr einfühlsamster Darsteller. Bei ihm wirkten Geist und Hand zusammen: Und was er dachte, äußerte er mit solcher Leichtigkeit, dass wir in seinen Papieren kaum eine Durchstreichung von ihm zu Gesicht bekommen haben. Doch ist es nicht an uns, die wir seine Werke nur sammeln und sie euch übergeben, ihn zu loben. Das ist an euch, die ihr ihn lest. Und da hoffen wir, aufgrund eurer vielfachen Fähigkeiten, dass ihr genügend finden werdet, was euch sowohl anzieht als auch fesselt: denn sein Genie kann nicht länger verborgen liegen, dann könnte es verloren gehen. Darum lest ihn, lest ihn wieder und wieder.»
Mit diesem Band konnten, wie schon Heminges und Condell betonen, Menschen von überall, auch wenn sie nie ein Shakespearestück auf der Bühne gesehen hatten, sein Werk zu einem Teil ihres Lebens machen. Sie konnten ihn wieder und wieder lesen. Und das haben sie, wie wir wissen, von Anfang an getan.
Mit dem First Folio wurde es möglich, dass Shakespeare das Theater verlassen und in alle Welt reisen konnte. Eines der Exemplare, die sich erhalten haben, hat einem gewissen William Johnstoune gehört, der im schottischen Dumfriesshire lebte. An den Rand geschrieben (wahrscheinlich von Johnstoune selbst) sind Beobachtungen zum Text derStücke, und wenn wir diese Marginalien lesen, schauen wir einem der ersten Shakespeare-Leser über die Schulter. Er sitzt in den 1620er Jahren allein in seinem Studierzimmer in Dumfriesshire, unterstreicht Sätze, die ihm auffallen, und kommentiert sie. Lesen wir diese Notate, dann sehen wir, wie Shakespeare zu einem Teil von William Johnstounes Welt wird. Er markiert Lady Macbeth’s Schlafwandeln: «Die verwirrte Königin geht, schreibt & spricht im Schlaf», und er notiert «unnatürliche Taten beunruhigen den Geist unnatürlich». Während seiner Leküre von Richard II. hebt Johnstoune eine sehr schottische Augenbraue über Gaunts Wort vom «gekrönten Eiland … dies Kleinod in der Silbersee gefasst», und man kann förmlich sehen wie er die Lippen zusammenpresst, während er an den Rand schreibt: «überspanntes Lob Englands».
Auf dieser Seite des First Folio Exemplars der Meisei Universität kommentiert ein schottischer Leser um 1620 Caesars Gedanken zum Tod: «Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt.»
Einige hundert Meilen von den Zuschauern entfernt, die sich in den Theatern der Bankside drängen, ihre Austern knacken und ihre Stoßdegen schwirren lassen, ist Johnstoune einer der Gründer einer neuen Art von
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