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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt
Autoren: Neil MacGregor
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wurde klar, dass er, wenn er rasch handelte, seine Verlobte vor der «Umsiedlung» bewahren konnte. Er musste sie auf der Stelle heiraten:
«Sofort nach diesem Diktat schickte ich einen Boten zu Tosia: Ich bat sie, gleich zu mir zu kommen und ihr Geburtszeugnis mitzubringen. Sie kam auch sofort und war ziemlich aufgeregt, denn die Panik in den Straßen wirkte ansteckend. Ich ging mit ihr schnell ins Erdgeschoß, wo in der Historischen Abteilung des «Judenrates» ein Theologe arbeitete, mit dem ich die Sache schon besprochen hatte. Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur mäßig überrascht und nickte zustimmend.
Der Theologe, der berechtigt war, die Pflichten eines Rabbiners auszuüben, machte keine Schwierigkeiten, zwei Beamte, die im benachbarten Zimmer tätig waren, fungierten als Zeugen, die Zeremonie dauerte nur kurz, und bald hatten wir eine Bescheinigung in Händen, derzufolge wir bereits am 7. März getraut worden waren. Ob ich in der Eile und Aufregung Tosia geküsst habe, ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, welches Gefühl uns überkam: Angst – Angst vor dem, was sich in den nächsten Tagen ereignen werde. Und ich kann mich noch an das Shakespeare-Wort erinnern, das mir damals einfiel: ‹Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?›»
    «Ward je in dieser Laun’ ein Weib gefreit?»: Der Satz stammt aus Shakespeares Richard III. , und es ist erstaunlich, dass er einem jungen Deutsch-Polen in einer solchen Situation einfiel. Im Zustand äußerster Aufregung waren es Worte Shakespeares, die Marcel Reich-Ranicki in den Sinn kamen.
    Wie wir in diesem Buch gesehen haben, hat Shakespeare seine Stücke mit Blick auf ein bestimmtes Publikum und auf die ruhelose, ihrer selbst ungewisse Welt verfasst, in der es lebte; es wollte er ansprechen. Wir haben uns auf das konzentriert, was Shakespeares Worte für Zuschauer bedeuteten, die damals noch keinem weltberühmten Dramatiker zuhörten, sondern sich aufgemacht hatten, um das neueste Stück zu sehen, das ein erfolgreicher Theaterautor für eines der kommerziellen Theater Londons geschrieben hatte. In diesem letzten Kapitel nun wollen wir betrachten, was Shakespeares Worte inzwischen für die ganze Welt bedeuten. Denn seit einigen hundert Jahren haben Menschen wie Marcel Reich-Ranicki bei Shakespeare die Worte gefunden, mit denen sie ihre tiefsten Gefühle ausdrücken konnten. Wie wurde dieser so sehr auf sein Publikum achtende Schriftsteller zum persönlichen Begleiter so vieler Späterer, seine Worte zum Stoff, aus dem ihre Hoffnungen, Ängste und Träume gemacht sind? Wie konnte dieser so englische Theaterautor zu einem Autor der ganzen Welt werden?

    Marcel und Teofila Reich-Ranicki, Fotografien, aufgenommen im Warschauer Ghetto.
    Die Antwort ist einfach. Sie liegt vor in Gestalt eines Buches: Mr. William Shakespeares Comedies, Histories, & Tragedies – wegen seines Formats häufig auch als «First Folio» bezeichnet. Dieser Band wurde auf der Frankfurter Buchmesse von 1622 angeboten, sechs Jahre nach Shakespeares Tod. Doch wie so oft waren Drucker und Verleger etwas langsam, und er erschien erst 1623. Zu dieser Zeit geschah es selten, dass Stücke eines einzelnen englischen Autors auf diese Weise gesammelt und veröffentlicht wurden; diese Ehre widerfuhr in der Regel nur einem der großen lateinischen Dichter oder Schriftsteller. Wenn es allein nach Shakespeare gegangen wäre, wäre dieses Buch vielleicht nie erschienen – er selbst scheint, aus welchem Grund auch immer, wenig oder gar kein Interesse daran gehabt zu haben, seine Stücke gedruckt zu sehen. (Ganz im Gegensatz zu seinem Freund Ben Jonson, der viel Mühe auf die Herausgabe seiner Collected Workes verwandte und damit in gewissen Kreisen auch allerhand Spott erntete.) Doch es lag eben nicht an Shakespeare. Die beiden Männer, die die «Shakespeare-Industrie» begründeten, waren seine langjährigen Kollegen John Heminges und Henry Condell, ebenfalls Mitglieder der King’s Men . Ihrer Energie und ihrer Begeisterung haben wir das First Folio zu verdanken, den Band mit Shakespeares gesammelten Stücken, zusammengesucht in den Archiven der King’s Men und aus anderen Quellen. Was sie antrieb, beschreiben die Herausgeber in der Widmung: Sie taten es, «allein um die Erinnerung an einen so würdigen Freund & Gefährten lebendig zu halten».
    Betrachten wir Titelseite und Inhaltsverzeichnis, dann beginnen wir zu begreifen, was wir Heminges und Condell zu verdanken
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