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Shakespeares ruhelose Welt

Shakespeares ruhelose Welt

Titel: Shakespeares ruhelose Welt
Autoren: Neil MacGregor
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Oldcorne das Auge ausgerissen wurde, dann fällt es schwer, nicht auch an das zu denken, was im ganzen Werk Shakespeares vielleicht die heftigste Bühnengrausamkeit ist: an die Blendung von Gloucester in König Lear , geschrieben etwa um die Zeit, in der Oldcorne sein Schicksal erlitt:
«CORNWALL: Sehn wirst du’s nimmer. Halte fest den Stuhl,
Auf deine Augen setz’ ich meinen Fuß.

    König Lear , 3. Akt, 7. Szene, Globe Theatre, 29. Juli 2008. Für uns heute kann die Blendung Glosters zu einem schier unerträglichen Teil der Vorstellung werden.
GLOSTER: Wer noch das Alter zu erleben hofft,
Der steh’ mir bei: – o grausam! O ihr Götter! –
REGAN: Eins wird das andre höhnen; jenes auch.
CORNWALL: Siehst du nun die Rache?
DIENER: Haltet ein, Mylord!
Seit meiner Kindheit hab’ ich Euch gedient,
Doch bessern Dienst erwies ich Euch noch nie
Als jetzt Euch: Halt! zu rufen.
REGAN: Was, du Hund?
DIENER: Wenn Ihr ’nen Bart am Kinn trügt, ich zaust’ ihn
Bei solchem Streit; was habt Ihr vor?
CORNWALL: Mein Sklav’?
Er zieht den Degen.
DIENER: Nun, dann nehmt hin, was Wut und Zufall bringen!
Sie fechten; Cornwall wird verwundet.
REGAN ZU EINEM BEDIENTEN:
Gib mir dein Schwert; lehnt sich ein Bauer auf?
Sie durchsticht ihn von hinten.
DIENER: Oh, ich bin hin! Mylord, Euch blieb ein Auge,
Die Straf’ an ihm zu sehn. – Oh!
Er stirbt.
CORNWALL: Dafür ist Rat: heraus, du schnöder Gallert! –
Wo ist dein Glanz nun?»
    Das Zerquetschen von Gloucesters Auge ist ein immer wieder schrecklicher Moment im Theater. Wir erwarten ihn. Wir wenden uns ab. Wir können das einfach nicht sehen.
    Doch war auch Shakespeares Publikum derart zu entsetzen? Das ist wohl eher unwahrscheinlich: Die bluttriefenden Stücke waren sehr beliebt, und die Exekutionen im wirklichen Leben zogen Menschen in großer Zahl an, die dichtgedrängt um die besten Plätze rangelten. Die Scharfrichter, von denen viele im Alltag Metzger waren, bearbeiteten bei den Hinrichtungen Körperstücke vor den Augen der Leute, es gehörte zur Vorstellung. Als groundling am Fuß der Bühne zu stehen war gewiss ganz ähnlich, wie sich in der Menge zu drängeln, die gegen das Blutgerüst gedrückt wurde. Holinsheds Chronik beschreibt das:
«Es steht außer Frage, dass es die Leute zu diesen öffentlichen Spektakeln zog. … Denn es gab keine Gasse, keine Straße oder Allee oder Haus in London und seinen Vorstädten, in den Weilern oder angrenzenden Städten nahe der City …, aus denen nicht einige jeden Alters und Geschlechts stammten; so viele waren es, dass die Wege verstopft waren mit Leuten, die immer mehr wurden, und sie drängten sich und rannten einander nieder in ihrer Hast, alle strömten sie zum Ort des Todes, einen Platz zu ergattern, auf dem sie stehen konnten, um zu sehen und zu hören, was gesagt und getan wurde.»
    Versunken in die Betrachtung der kleinen silbernen Dose, kann ich mich gegen den Gedanken, die Frage nicht wehren, was Edward Oldcorne mitseinem rechten Auge wohl als Letztes gesehen hat. Er wurde gehängt, noch lebend vom Strang geschnitten, so wird er zuletzt wohl diese stoßende und schiebende Menge aus Männern und Frauen erblickt haben, die miteinander um bessere Sicht rangelten. Und schon schob sich der Scharfrichter mit dem Messer ins Bild, um ihn aufzuschlitzen.



Kapitel Zwanzig
    Shakespeare erobert die Welt
    Die Stücke im Druck
    A m 22. Juli 1942 verkündete die SS, alle Juden Warschaus würden, so der damals übliche Euphemismus, «in den Osten umgesiedelt». Gemeint war das Lager Treblinka, die Anordnung ein Todesurteil. Sechs «Personenkreise» allerdings sollten ausgenommen werden von dieser Umsiedlung. Zu diesen Personen gehörte der damals sechsundzwanzigjährige Marcel Reich-Ranicki. Heute über neunzig Jahre alt und Deutschlands einflussreichster Literaturkritiker, hat er seine Geschichte im Januar 2012 vor dem deutschen Bundestag erzählt. Es wurden ausgenommen
«alle arbeitsfähigen Juden, die kaserniert werden sollten, alle Personen, die bei deutschen Behörden oder Betriebsstellen beschäftigt waren oder die zum Personal des «Judenrats» und der jüdischen Krankenhäuser gehörten. Ein Satz ließ mich plötzlich aufhorchen: Die Ehefrauen und Kinder dieser Personen würden ebenfalls nicht ‹umgesiedelt›.»
    Als deutsch-polnischer Jude arbeitete er für den Judenrat, die von den Nationalsozialisten eingesetzte jüdische Ghettoverwaltung. Er hatte keine Frau und auch keine Kinder, aber er war verlobt, und ihm
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