Shane - Das erste Jahr (German Edition)
sie die Tür öffnete, hörte sie schon die Stimmen der Familie. Shane zog ihre Schuhe aus und öffnete die Tür neben der Garderobe, die in das kleine Badezimmer führte.
„Shane, du kommst zu spät!“, rief die Mutter aus dem Esszimmer.
Shane schaute in den Spiegel. Mist, der Puffer war verschwunden.
„Shane!“
„Ich komme!“ Sie drehte den Hahn zu und schloss die Tür hinter sich.
„Setz dich.“ Die Mutter schaufelte ihr einen riesigen Haufen Bratkartoffeln auf den Teller, der herrlich duftete. Erst jetzt bemerkte Shane, was für einen Hunger sie hatte. Während sie aß, überflog sie mit den Augen die aufgeschlagene Zeitung. „Brückenbau genehmigt, Bürgerbegehren läuft weiter.“„Rohrbruch in der Kindertagesstätte der Stadtmitte.“
„Bürgermeister Waller verzichtet auf Fortsetzung seiner Kur. Die Stadt gehe jetzt vor.“
„Shane!“
„Warme Kleidung in den regionalen Geschäften Mangelware, Bürger müssen in die umliegende Städte zum Einkaufen fahren.“
„Shane!“
Shane riss den Kopf hoch. „Ja?“
„Du sollst nicht so schlingen!“
„Hmm. Hmm.“, nuschelte sie mit vollem Mund.
„Willst du noch etwas?“
„Hmm.“ Sie schob ihren leeren Teller hin.
Der Vater schenkte sich ein Bier ein. „Hast du was von Mark gehört?“
Shane hielt mit Kauen inne und blickte die Mutter an.
„Nein.“, sagte diese und schob Shane einen vollen Teller zurück. „Aber er war hier.“
„Was? Hast du ihn gesehen?“
„Natürlich nicht! Wenn er nicht gesehen werden will, dann sieht man ihn auch nicht!“
„Und woher willst du es dann wissen?“
Die Mutter legte die Kelle in die Pfanne zurück. „Weil ich es weiß.“
Der Vater runzelte die Stirn. „Aha.“
Shane hielt den Kopf über das Blatt. Gerda kommt aus dem Haus. Gerda gießt Blumen. Gerda füttert den Hund. Ätzend.
Shane nahm das Leseheft und feuerte es in den Papierkorb. Sie war so weit. Dann blickte sie auf die Mappe, die vor ihr lag. Sie hatte sich eine Belohnung verdient.
Zuerst zeichnete sie die Gasse ein, die sie heute gefunden hatte. Gefunden. Sie verzog den Mund. Eher war sie durch diese Gasse geflüchtet. Shane schluckte. Wie sehr sie es auch versuchte, sie konnte nicht aufhören, daran zu denken, was sie heute gesagt hatte.
Welche Worte aus ihrem Mund herausgekommen waren. Sie kramte einen Papierfetzen aus ihrer Hosentasche. Auf dem Tisch strich sie ihn glatt.
Zum hundertsten Mal fuhr sie mit den Augen darüber.
„Wie die Polizei berichtet, wurde der Jugendliche, der offenbar ein Anhänger der “Frettchen“ war, heute früh in der Nähe der inneren Mauer tot aufgefunden. Zeugen zufolge tobte nur ein paar Stunden zuvor eine erbitterte Schlacht zwischen den verfeindeten Gangs, bei dem der gefundene Teenager offenbar …“ Shane schluckte wieder.
Frettchen.
Sie schüttelte den Kopf. Die roten Fäden darin fielen hin und her.
Genug jetzt davon, Shane! Ruhig atmen, immer nach vorn blicken! Sie schob das Papier wieder in die Tasche und zog ihr angefangenes Mandala aus der Mappe.
Als der rote Stift das Papier berührte, atmete Shane tief aus. Zufrieden blickte sie auf ihr Werk.
Dann runzelte sie die Brauen. Sie dachte an das Gespräch ihrer Eltern heute Abend. Shane drehte sich langsam um und überlegte. Schließlich stand sie auf, ging zum Schrank und öffnete die Türen.
Sie wühlte zwischen ihren Sachen, fuhr an der Schrankhinterseite hinauf und spürte unter der Hand ein Blatt Papier.
Sie riss es ab. Es war Marks Schrift. Shane lachte. „Chuck Norris kann schwarze Filzstifte nach Farbe sortieren.“
Draußen am Fenster flogen graue dicke Wolken vorbei. Shane hatte den Kopf aufgestützt und beobachtete sie. Sie kamen und brachten Schnee. Doch nicht in der Stadt. In der Stadt schneite es nicht, nie. Genaugenommen hatte es vor vierzehn Jahren das letzte Mal geschneit, und dann nie wieder. Das hatte Shane in der „Bio“ gelesen, in Mamas Zeitschrift.
Dort stand etwas von Luftströmen und Wärmeinsel und einem Rätsel für alle Experten, doch Shane stellte sich lieber vor, wie die Wolken an den hohen Häusern oder Antennen hängen blieben und ihre dicken Bäuche nicht über der Stadt ausschütteln könnten.
„Shane?“
Sie schreckte hoch. „Ja?“
Der Schmauss stand auf. „Warum arbeitest du nicht, Shane?“
„Ich bin fertig.“
Maria hob den Kopf.
Shane spürte, wie sie sie anblickte, doch sie drehte nicht den Kopf.
Der Schmauss war an ihre Bank herangetreten und nahm
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