Shane - Das erste Jahr (German Edition)
erstarrt, ein Mädchen hatte kurz aufgeschrien. Der Schmauss riss die Augen auf und blickte aus dem Fenster. „Alle ganz ruhig bleiben, keine Panik!“ Er ging langsam zum Fenster, die Schüler schauten ihm atemlos hinterher. Der Schmauss blickte durch das Glas hinaus, fuhr mit einem Auge über den Hof, hinüber zur Turnhalle. Er runzelte die Stirn.
Aus einem der riesigen Kastanienbäume quoll Rauch hervor, er qualmte wie ein Glimmstängel.
„Der Blitz hat eingeschlagen.“, sagte er leise. „Es kommt Schnee in die Stadt.“
Die Kinder blickten sich fragend an. Shane konnte nicht glauben, was er gesagt hatte, doch sie hatte es ganz genau gehört. Von weiten erklang die Sirene der Feuerwehr.
„Ja, sehr gut, Shane, abspringen, und die Nächste bitte!“ Inzwischen beherrschte sie das Seil perfekt, ebenso wie die große Kugel. Shane schaute sich um. Sie blickte auf die Uhr. 15.46 Uhr.
Sie brauchte Rotbein nicht zu fragen, sie wusste, er würde Ja sagen. Shane drehte sich um und lief zum Zeltausgang. Draußen blickte sie in den Himmel. Er war grau wie jeden Tag.
Sie dachte an den Vorfall in der Schule, an den Blitz. Schließlich drehte sie sich um. Sie lief durch die Gänge, ein bekannter Weg, vor der Orchidee blieb sie stehen. Shane fuhr mit den Augen das Bild entlang, wie immer, schließlich schaute sie ihr direkt in die Augen. Rote Fäden krochen in ihrem Kopf hin und her, suchten einander, krochen aufeinander zu und voneinander weg.
Shane riss die Augen auf. Sie wankte und trat schließlich einen Schritt zurück. Sie wusste es.
Es fiel ihr ein, so klar und deutlich, als hätte die Schwarze Orchidee zu ihr gesprochen.
Shane kniff die Augen zusammen. Ihr Herz klopfte. Vierzehn Jahre kein Schnee. Vierzehn Jahre ist es her,
dass die Schwarze Orchidee nicht mehr in der Stadt war.
Zwei Fäden weniger.
Sie gelangte schnell in die Bibliothek. Es war noch hell, es schien ihr, als würde es etwas länger hell bleiben als sonst, sie hoffte es, sicher würde dieser Umstand ihr etwas mehr Zeit geben. Sie war schon froh genug, dass Gertie ihr überhaupt noch erlaubte, allein zum Zirkus zu gehen, nicht auszumalen, was geschehen würde, wenn die Mutter von Shane’s Spaziergängen durch die Stadt erfahren würde. Ich würde auf ewig Hausarrest bekommen.
Doch das hier waren keine Spaziergänge, nicht für sie, sie musste Informationen sammeln, Licht ins Dunkle bringen, Fäden zueinander führen.
Daran dachte sie, jeden Tag, jeden gottverdammten Tag dachte sie daran, die Antwort auf die Frage zu bekommen, die allein wichtig war.
Wer bin ich?
Shane saß an einem der Tische und tat so, als würde sie lesen. Tatsächlich beobachtete sie die junge Frau mit der Brille, die ab und zu einen Blick auf Shane warf. Schnepfe.
Shane trommelte mit den Fingern auf die aufgeschlagene Seite. Leider spielte die Zeit gegen sie. Shane hielt inne. Sie schluckte. Ein altes Ehepaar war auf die Bibliothekarin zugeschlurft und schien etwas wissen zu wollen. Los, Shane! Das ist deine Chance! Sie klappte das Buch zu und erhob sich. Schnell lief sie auf das Regal, auf dem „Archiv“ stand, zu. Die junge Frau hatte sie entdeckt und winkte ihr zu. „He, wo willst du hin?“ „Ich stelle nur das Buch zurück!“ Shane atmete schnell. Sie schob das Buch in das Regal und zog ein anderes heraus. Zügig ging sie zurück, an der Bibliothekarin vorbei, die mit einem verkniffenen Gesicht Oma und Opa etwas erklärte. Los, Shane!
Sie ging zügig an den vorderen Schreibtisch, von dem sie wusste, dass sie hier auch einen Stempel bekommen würde.
Würde die Frau nicht an dem Tisch sitzen, sondern irgendwelche Bücher einsortieren, wäre das das Ende ihres schönen Plans. Die Frau saß dort. Shane atmete laut aus. „Hallo.“
„Guten Tag. Dieses Buch soll es sein?“
„Ja.“ Shane drehte sich kurz um. „Ich habe es eilig. Meine Mama macht sich Sorgen, wenn ich solange fort bleibe.“
Die Frau blickte sie mitleidig an. Bingo.
„Na dann …“, sagte die Frau, zog das Buch und griff nach Shane’s Ausweis.
Shane steckte alles schnell in die Tasche und drehte sich um. Aus den Augenwinkeln sah sie die Brillenschlange auf sie zukommen. Shane lief los. Sie zog die schwere Tür auf, rannte die Treppen hinunter und schaute sich um. Sie würde der Bibliothekarin zutrauen, dass sie ihr folgen würde. Doch die riesige Holztür blieb geschlossen. Shane atmete durch und zog ihre Handschuhe aus der Manteltasche. Sie blickte zum Himmel.
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