Shane - Das erste Jahr (German Edition)
und Frau Winter! Guten Abend!“ Sie erhob sich.
„Ja, guten Abend!“ Die Mutter blickte ihr nach.
Dann schaute sie suchend durch das Klassenzimmer. Ihr Mann zog sie ungeduldig am Ärmel. „Gertie!“
Sie drehte den Kopf. „Was ist denn?“
„Ich will nicht mit ihm reden!“, zischte der Vater.
„Mit wem?“
Er deutete nur mit dem Kopf nach rechts. Die Mutter verdrehte die Augen. Sie winkte dem Schmauss zu.
„Hör auf!“
„Wir sollten mit ihm sprechen!“
„Wieso? Du hast doch gehört, dass Shane Fortschritt in Mathe gemacht hat!“
„Ja, und vielleicht will ich wissen, was für Fortschritte?“
„Ach Quatsch, das ist doch nicht so wichtig. Komm jetzt!“ Er erhob sich und zog seine Frau mit sich. Vor dem Klassenzimmer atmete der Mann laut aus. „Dass die den immer noch unterrichten lassen!
Ich fand den schon bei Mark so gruselig! Ständig fummelt er sich an seinem Auge rum!“
„Manfred, der ist nicht gruselig, sondern nur ein Lehrer!“
„Können wir jetzt bitte endlich gehen!“
„Ja, von mir aus!“
Sie liefen durch die langen Korridore. Sie wussten es nicht, doch genau über ihnen war Rambo an einen der Spinde geknallt. Schließlich traten sie ins Freie. Die Mutter schüttelte den Kopf. „Wer hätte das gedacht, mein Mann hat Angst vor einem Lehrer!“
15.37 Uhr.
Shane schaute durch die Gänge. Sie lief einen bekannten Weg, wieder, sie musste sie sehen; sie huschte durch die gespannten Bögen, bis sie schließlich vor ihr stand. Fast jedes Mal, wenn sie hier war, stattete sie ihr einen Besuch ab.
Shane verfolgte mit den Augen die geschwungenen Linien, die nicht erahnen ließen, was Mensch oder Pflanze war.
Die Schwarze Orchidee.
Sie schaute auf die Uhr. Rotbein hatte sie gehen lassen, sie wusste nicht warum, sie wusste nicht, warum er sie jedes Mal gehen ließ wann immer sie es wollte, es war wie eine still schweigende Übereinkunft zwischen ihnen.
Shane überquerte die Straße, wanderte mit den Blicken den Stamm des einst brennenden Baumes entlang, stellte sich kurz vor, wie züngelnde Flammen an ihm herauf krochen und ging dann weiter.
15.44 Uhr. Wenn sie noch in die Bibliothek wollte, musste sie sich beeilen. Sie hatte sich schon überlegt, was sie tun wollte. Sie würde sich schnell ein paar Bücher aus dem Archiv holen und dann nach Hause laufen. Sie hatte den Zeitpuffer von fünf auf sieben Minuten erhöhen können, doch nun, da Mark abgehauen war, wusste sie nicht, ob die alten Gesetze für sie noch galten.
Nach der zweiten Stadtmauer sah sie in den Himmel. Fast schwarz.
Mist.
Shane bog nach rechts in eine Seitengasse ab und blieb abrupt stehen. Sie hörte jemanden schreien. Shane riss die Augen auf.
Ihr Pulsschlag hatte sich innerhalb eines Augenblickes aufs Doppelte erhöht.
Sie rannte los. Fast konnte sie den Park schon vor sich sehen, die Bäume, ihre hohen Kronen. Hinter ihr wurden die Stimmen lauter.
Während sie rannte, blickte sie über die Schulter. Ihre Augen weiteten sich, die kalte Luft strömte in ihren aufgerissenen Mund und machte sich in ihrem Inneren breit wie ein bekannter Schmerz. Sie wurde verfolgt! Shane fühlte ihr Herz bis zum Herz schlagen. Ruhig, Shane! Ruhig atmen!
Jemand rannte hinter ihr her, sie konnte kaum etwas erkennen, es waren mehrere, sie alle waren dunkel gekleidet, fast schienen sie zu verschmelzen mit der Schwärze in den Straßen. Shane schaute wieder nach vorn und rannte schneller, atemlos bog sie erneut ab. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, doch die Geräusche hinter ihr waren verstummt und Shane zwang sich, langsamer zu laufen.
Schließlich blieb sie stehen.
Sie stützte sich auf die Knie und holte tief Luft. Dann erst blickte sie hinter sich. Es war niemand zu sehen.
Es war still, unheimlich still, nur das Knacken einer Glühbirne hinter dem vergilbten Glas einer Straßenlaterne war ab und an zu hören. Shane richtete sich langsam auf. Ihr Atem hatte sich etwas beruhigt und sie sah sich um. Sie befand sich in einer engen Gasse.
Die vereisten Pflastersteine reflektierten das spärliche Licht und schimmerten unheilvoll wie kleine viereckige Augen in der Dunkelheit. Shane fuhr mit den Augen an den gedrängten Häusern entlang. Dann richtete sie den Blick nach vorn. Sie befand sich in einer Sackgasse. Obwohl sie eine unbändige Angst verspürte, krochen in ihrem Kopf die roten Fäden hin und her. Sie fragte sich, wo sie die Gasse auf ihrem Mandala einzuzeichnen hatte. Sie blickte wieder zurück. Es schien,
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