Shane - Das erste Jahr (German Edition)
ahnte, dass diese Kraft zu der Stimme gehörte, die neu war. Die, die jetzt gerade stärker schien als die andere. Die Kraft, die ihre eigene war. Shane schluckte erneut, zwang sich, weiter zu gehen.
Sie ahnte ebenfalls, dass diese Stimme, diese Kraft überlegen war, weil Shane sich hier an diesem Ort aufhielt.
Sie spürte die Dunkelheit unter sich deutlich, und immer deutlicher bei jedem Schritt, den sie vorwärts ging.
Vorwärts, immer einen Schritt nach dem anderen, vorbei an den Regalen, die nun im Dunkeln viel höher und bedrohlicher aussahen als bei Tageslicht.
Durch die hohen schmalen Fenster fiel etwas Licht der Laternen in die Bibliothek, gerade so viel, dass Shane sehen konnte, wohin sie gehen musste. Der Drang in ihr, das Ziehen nahm jedoch so stetig zu, dass sie glaubte, auch mit geschlossenen Augen dorthin zu finden, wohin sie wollte. Wohin sie musste.
Ihre Hand fuhr in die Innenseite ihres Mantels, wo in einer der Schnallen eine schmale Taschenlampe steckte, doch sie traute sich nicht, sie herauszuholen.
Zu groß war das Risiko, dass jemand draußen den hellen Strahl sehen konnte. Jemand, der herumschlich. Jemand, der Wache hielt.
Die Regale zogen an ihr vorbei, und bald konnte Shane den hinteren Gang erkennen.
Shane stand vor ihr, sie stand vor der Tür, an die sie in den letzten Tagen, Wochen so oft gedacht hatte. Durch ihren Kopf eilten tausende von Gedanken, doch ihre Hand war bereits in die Innenseite des Mantels gefahren und hatte den kleinen metallenen Gegenstand herausgeholt, den sie nun langsam drehte.
Shane beugte sich etwas nach vorn und nach unten, doch es war zu dunkel hier hinten, um das Schloss zu erkennen. Mit der freien Hand holte sie die Taschenlampe heraus. Der Schlüssel glitt so mühelos in das Schloss, als hätte er darauf gewartet. Shane zog die kalte Luft ein und öffnete die Tür.
Als sie auf der anderen Seite der Tür stand, war sie erstaunt. Die Kälte war verschwunden. Sie dachte an die Aufzeichnungen, daran, dass der alte Mann, das Auge geschrieben hatte, dass in den Katakomben kein Krieg herrschte. Obwohl das viele Jahre her war, konnte Shane die friedliche Wärme noch spüren.
Der Strahl der Taschenlampe fuhr wackelig über die Mauern aus Stein, das Gerät zitterte in Shane’s Hand. Sie hatte Angst, und zwar eine so große, dass sie am liebsten auf der Stelle kehrt gemacht hätte und davongelaufen wär. Für einen Moment dachte sie sogar daran, die Polizei anzurufen und sich hier abholen zu lassen. Doch sie wusste, dass sie das nicht tun würde.
Die Stimme in ihr würde ihr beiseite stehen, und Shane war sich sicher, dass hier unten niemand war außer ihr selbst. Unten? Noch war sie nicht unten.
Sie blickte die Stufen hinunter, die sofort nach einem kleinen Vorsprung, auf dem Shane stand, begannen.
Sie war noch nie an einem anderen Ort gewesen als in der Stadt, in der sie lebte, ein paar Mal waren sie in einem Vergnügungspark gefahren, den größeren Urlaub planten die Eltern erst für das übernächste Jahr; doch Shane fühlte sich hier wie in einer anderen Welt. Es war ihre Welt. Ganz toll Shane, du stehst auf der anderen Seite einer beschissenen Tür, was soll das für eine andere Welt sein? Sie setzte einen Fuß auf die erste Stufe, der Gedanke, dass sie sich hier nicht fremd fühlte, nahm ihr etwas die Angst.
Shane tauchte ein in einen Geruch, den sie nicht kannte, in eine Welt, von der sie dachte, dass sie ihr fremd war, doch das schien nicht wahr zu sein; Stufe für Stufe tauchte sie ein in diese Welt und fühlte sich mit jedem Schritt sicherer. Ihre Angst ließ etwas nach, hier unten war sie sicher.
Noch.
Shane blickte auf die Mauer zu ihrer rechten und zur ihrer linken, die vom schmalen Schein der Lampe erleuchtet wurden. Es waren riesige quadratische Gesteinsbrocken, sie sie umgaben, und sie hatte angenommen, hier unten würde es feucht sein. Doch es war nicht feucht, es war trocken und warm.
Shane tastete mit der linken Hand nach der Mauer, sie hatte das Bedürfnis, sie zu berühren, und sie musste sich nur ein klein bisschen zur Seite neigen, um sie zu erreichen, der Gang, der hinab führte, war eng.
Sie fuhr mit der Hand, die immer noch im Handschuh steckte, die Mauer entlang.
Es waren zwanzig Stufen, die nach unten führten.
Unten angekommen, gab es nur einen Weg, nach vorn. Shane ließ den Strahl der Taschenlampe über die Wände gleiten. Große, trockene Steine. Rechts und links befanden sich in regelmäßigen Abständen große
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