Shane - Das erste Jahr (German Edition)
beobachteten das hektische Treiben im Teehaus.
„Ich wünschte, es würde endlich los gehen.“, sagte Jonas und fasste sich wieder in den Nacken. Mark drehte den Kopf und sah den Freund an. Sein Blick war düster. „Du wirst nicht mehr lange warten müssen.“, sagte er und schaute dann wieder in das Teehaus. „Wir werden nicht mehr lange warten müssen.“
Schon als sie früh am Morgen aufwachte, schon als sie die Augen aufschlug, wusste sie, dass heute der Tag sein würde.
Shane stieß die Decke von sich, richtete sich auf und atmete tief ein. Sie fühlte ihr Herz in der Brust schnell schlagen, sie setzte sich auf die Bettkante und zwang sich ruhig zu bleiben. Heute war der Tag.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Der Garten sah aus wie ein geflecktes Stückchen Erde.
Die letzten weißen Kleckse schmückten den braunen Rasen, doch gegen die Schneeglöckchen hatte sie keine Chance mehr.
Selbst durch die dünne obere Eisschicht hatten sie sich gebohrt und streckten nun stolz ihre weißen Spitzen empor. Shane betrachtete sie.
Sie würde sich ebenfalls wie die Frühblüher da unten im Garten aus der Dunkelheit heraus kämpfen. Und es würde heute sein.
Beim Frühstück bekam sie keinen Bissen runter, sie blickte auf die Rühreier auf ihrem Teller und das Wort Henkersmahlzeit schoss ihr durch den Kopf. In der Schule war sie abwesend, sie starrte nur vor sich hin, schaute nicht einmal aus dem Fenster, um die Wolken zu betrachten, und bemerkte auch nicht die Blicke von Maria, die sich immer wieder zu ihr hinüber stahlen.
„2.Juni 1988.
Ich bin ein Feigling. Ich traue mich nicht, in die Katakomben zu gehen, obwohl das Ziehen in mir immer stärker zu werden scheint.
Ich habe es gut versteckt, und bin mir sicher, dass sie es nicht finden werden, doch ich kann nicht glauben, dass das alles gewesen sein soll. Es muss doch einen Weg geben!
Gestern Nacht bin ich mit einem von ihnen zusammen gestoßen, es ist nichts passiert, auch sie scheinen müde des Kämpfens zu sein.
Er ist einfach an mir vorüber gegangen, hat mir den Rücken zugekehrt als wäre ich der vertrauensseligste Mensch, den er kenne, und ich konnte einen Blick auf seinen Köcher werfen. Diese schmalen, langgezogenen weißen Dinger haben mir immer Angst gemacht, doch nicht gestern Nacht. Gestern Nacht schien uns der Köcher nur wie ein Relikt aus alten Zeiten.
Vermutlich irre ich mich. Vermutlich bin ich einfach ein Greis, und er ebenfalls; unsere Zeit ist gekommen und wir beide sind nun nicht mehr wichtig.
Überall treffe ich auf sie, selbst von den Aussätzigen wimmelt es in der ganzen Stadt. Mit einem von ihnen habe ich mich sogar unterhalten! In der Warteschlange in dem neuen Laden, den sie gebaut haben!
Ich habe ihn gefragt, und er hat es mir erzählt. Als er aussteigen wollte, haben sie ihm keine Ruhe gelassen. Mein Gott, das muss man sich einmal vorstellen, sie bringen ihre eigenen Leute um! Als ich ihn nach seinem Auge fragte, lachte er nur und sagte: „Das ist der Klassiker. Ein Pfeil direkt ins Auge.“
Heute war der letzte Tag, an dem die Schüler den Zirkus besuchten. Shane musste darauf verzichten, und auch wenn es sie schmerzte, sich nicht von Rotbein verabschieden zu können, war ihr klar, dass etwas weitaus wichtigeres vor ihr lag. Und auch beschlich sie das Gefühl, dass es nicht verkehrt war, heute nicht in den Zirkus zu gehen, in den letzten Wochen war es ihr so vorgekommen, als hätte der Blick des Direktors ein paar Mal zu oft auf ihr geruht.
Als sie an diesem Tag durch den Park spazierte, schien es ihr, als wüsste jeder Bescheid.
Jeder schien zu wissen, dass etwas geschehen würde, jeder einzelne von jenen, die sich seit langem wieder vor die Tür wagten und wie sie über die Wege liefen.
Shane bewegte sich langsam, sie wollte den Jägern genug Zeit geben, sie wahrzunehmen. Alle sollten sie wissen, dass sie hier war; dass sie hier war und gesehen werden wollte.
Sie blickte über die Hügel und Wiesen, die noch vom Winter gezeichnet waren, sie blickte über die Wege und die hohen Bäume, die sie säumten.
Unvorstellbar, doch in einigen Wochen würden wieder Kinder über saftiges grünes Gras rennen und über die kleine Brücke laufen, die über den Teich führte.
Shane schüttelte fast den Kopf bei dieser Vorstellung, noch war alles grau und trüb und kalt, doch wäre sie näher herangetreten an die kleinen Büsche, die vereinzelt im Park wuchsen, dann hätte sie die ersten winzigen Knospen sehen
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