Shane - Das erste Jahr (German Edition)
sich im ersten Augenblick schützend bücken, doch dann starrte sie nach vorn und formte ihre Gedanken.
Die Steine und der Staub wurden ins Innere des freigelegten Raumes gezogen, das Poltern ließ nach. Shane leuchtete mit der Taschenlampe, doch der helle Staub vernebelte ihr die Sicht und brachte sie zum Husten.
Sie ging vorwärts und verschwand in dem Loch in der Mauer.
Es war ein Raum. Er war hoch, und die Decke wölbte sich in Bögen über ihr.
Der Raum hatte keinerlei Schaden ihres Angriffs genommen, nur die Tür war frei gelegt worden. Sehr präzise, Shane.
Auf einmal musste sie grinsen. Sie stellte sich in die Mitte des Raumes und drehte sich langsam herum. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sich das Kämpfen gelohnt hatte; das ewige einsame Rumgestehe auf dem Schulhof, das wochenlange Training, die Schnitte und Kratzer an ihrem gesamten Körper. Zum ersten Mal fühlte sich stark, überlegen; fähig, selbst zu entscheiden.
Sie blickte auf die riesigen Überreste aus Stein, die sie hatte bewegen können, und zwar so gezielt, dass ihr niemals etwas hätte geschehen können. Nicht schlecht für jemanden, der einmal Angst hatte vor Joghurtbechern. Shane drehte sich langsam herum. Sie fühlte sich frei.
In den Raum standen ein paar hohe Regale, es waren die gleichen wie die aus der Bibliothek. Sie waren leer, und Shane wusste bereits, bevor sie sich einmal ganz um sich selbst gedreht hatte, dass das dicke Buch mit dem schweren Einband das Einzige war, was sie hier finden würde. Das Einzige, was sie gesucht hatte.
Shane blickte nach rechts. Das Buch lag in einem der Regale so einladend und ungeschützt, dass es schon fast zu einfach war.
Als sie es in den Händen hielt, hatte sie das Gefühl, dass alle Fäden in ihrem Kopf heraus und in das Buch hinein kriechen wollten. Antworten, Shane, Antworten. Auch wenn das Ziehen in ihr nicht nachgelassen hatte, sie musste von diesem Ort verschwinden, wer weiß was ihre kleine Explosion ausgelöst haben mochte.
Shane strich mit der Hand über den Einband und drehte das Buch.
Auf dem Rücken stand nichts außer einer römischen Ziffer: Eins. Also war es ein Teil, einer von vielen vielleicht.
Sie setzte den Rucksack ab und schob das Buch hinein, verschloss ihn sorgfältig und schlüpfte wieder in die Gurte.
Shane atmete aus. Sie fühlte sich frei, noch freier als auf den Dächern über der Stadt. Sie fühlte sich stark. Stark und mächtig.
Und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie diese Macht steuern konnte, wie sie es wünschte. In die richtige Richtung. Doch egal, welche Richtung es sein würde, es würde ihre sein.
Ihre Entscheidung.
Ihr Leben.
Sie blickte sich um. Auch wenn sie es nicht wollte, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubte, sie wusste, dass sie diesen Raum zerstören müsste.
Sie war sich sicher, dass außer dem Band nichts anders hier drin aufbewahrt worden war, doch sie wollte auf keinen Fall, dass die Jäger oder diese hinterhältigen Frettchen diese Mauern betreten und ihnen das letzte Magische aus den Ritzen saugen würden.
Shane atmete noch einmal tief ein und drehte sich dann zu dem Loch in der Wand um. Der Staub hatte sich beinahe vollständig gelegt.
Shane hatte den Raum fast verlassen, als sie den Atem anhielt. Etwas kam auf sie zu.
Shane riss die Augen auf. Sie hatte das Gefühl, kaum atmen zu können. Sie drehte sich mit aufgerissenen Augen herum, sie drehte sich um sich selbst, als wolle sie ausmachen können, woher das Geräusch kam.
Doch es war kein Geräusch.
Es war die Gewissheit, dass etwas auf sie zu kam, etwas war direkt auf dem Weg hier her, zu ihr, etwas so Großes, so Mächtiges, dass es ihr den Atem nahm.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie wieder Luft holen konnte, es kam ihr vor, als wäre sie taub oder gelähmt, wie in einem Traum, in dem sie sich nur träge hinterher blicken konnte.
Das was da kam, das, was sie suchte, war größer als alles, was Shane bisher erlebt hatte, größer, als sie sich je hätte vorstellen können. Es war eine Macht, deren Ausmaß Shane nur erahnen konnte, doch sie spürte sie deutlich und scharf. Eine Macht, die sie töten konnte.
Shane kam zu sich und blickte sich hektisch um. Sie stieg eilig über die Mauerreste und trat in den Gang. Sie musste flüchten, sofort, sie musste …
Eine Welle kam auf sie zu.
Shane starrte in die Richtung, aus der sie kam, sie kam von der anderen Seite, gegenüber von dem Treppenaufgang.
Tja Shane, du hattest
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