Shane - Das erste Jahr (German Edition)
unrecht, du warst nicht allein hier unten.
Nein, sie war allein, sie war allein gewesen, diese Macht hätte sie gespürt. Sie hätte sie bereits oben in der Bibliothek gespürt, schon beim ersten Mauerdurchbruch, vielleicht schon ab dem Zeitpunkt, an dem sie beschlossen hatte, die Katakomben aufzusuchen.
Shane blickte in die Dunkelheit, die nun vor ihr verschwamm. Die Welle verzerrte die Schwärze, die flackernd oder schwimmend auf sie zukam.
Shane starrte die seltsame wellenförmige Dunkelheit an und mit einem Mal erstarben alle Fragen in ihr, alle Fäden zogen sich zurück, lösten sich auf und in ihrem Kopf stand nur ein messerscharfer Gedanke; das Wissen durchzuckte sie wie ein klarer Blitz.
Das dort drüben am anderen Ende des Tunnels, das oder die Person war wie ein Gegenstück von ihr selbst.
Shane konnte nichts tun, sie konnte nicht handeln anhand dieser stummen Faszination, dem Entzücken darüber, dass endlich eine ihrer Fragen beantwortet worden war. Sie starrte die Welle an, die nun nur noch etwa zwanzig Meter von ihr entfernt war und konnte nichts tun, als neugierig zu gaffen und abzuwarten. Wenn ihr Körper nicht die Kontrolle übernommen hätte, wäre sie vermutlich gestorben. Ihre rechte Hand hob sich ein wenig und ihre Finger streckten sich aus.
Eine kleine Welle kroch auf die große zu. Sie schienen zu verschmelzen, dann sah es eher so aus, als würde die große Welle die kleinere aufsaugen.
Jetzt schaltete sich endlich ihr Verstand wieder ein. Shane blickte auf die Welle und konzentrierte sich auf sie.
Sie wurde lediglich ein klein wenig langsamer. Nur noch acht Meter. Nun bekam sie es mit der Angst zu tun, sie mochte das Gegenstück sein, vielleicht, doch sie war ein Kind! Sie war sieben Jahre alt!
Das da, die Person dort drüben war sehr wahrscheinlich ausgebildet, gereift; bereit zu töten! Shane, hör auf zu jammern, tu es!
Tu es!
Tu es JETZT!
Die Welle kam und Shane trat einen Schritt zurück.
Die Kraft, die sie aus ihren Gedanken geformt hatte, prallte auf die entgegenkommende Dunkelheit und stoppte sie sofort. Obwohl Shane eine Heidenangst hatte, verspürte sie für den Bruchteil einer Sekunde Stolz. Sie war mächtig.
Die Kräfte waren aufeinandergeprallt, wie eine verschwommene Mauer auf eine andere, keine gab nach, es gab kein Hin und Her Gerangel wie bei einem Tauziehen, es war einfach st ill und ruhig hier unten, in den Katakomben, hier unten unter der Stadt.
Doch es sollte nicht lange ruhig bleiben.
Die Wellen, die von den beiden Kräften ausgingen, breiteten sich langsam auf die umliegenden Mauern aus Stein aus, ein Vibrieren ergriff die Steine, alles aus Stein, die Decke, den Boden, den gesamten Gang.
Die Vibration erzeugte ein Summen, welches sich bald zu einem leisen Grollen entwickelte, dann wurde es lauter, immer lauter und unheilvoller.
Die beiden Kräfte hätten hier eine Ewigkeit verharren können, ein Leben lang und darüber hinaus; doch die Welt um sie herum konnte ihrer nicht standhalten. Die Mauern um Shane herum schienen zu zittern.
Sie runzelte die Stirn. Sie ließ die Hand sinken, richtete den Blick jedoch weiter nach vorn. Das Zittern wurde stärker, nun konnte sie aus den Augenwinkeln wahrnehmen, wie sich die Wände verschoben. Steine lösten sich und prasselten herab.
Shane zuckte zusammen und hielt sich die Hände über den Kopf. Bald trafen sie die ersten Steine. Der Gang löste sich auf, die Welle war zu stark für diese Mauern, die doch schon einiges erlebt hatten; sie waren zu schwach für diesen Kampf von zwei aufeinandertreffenden Mächten, denen wohl kein Gemäuer der Welt hätte standhalten können.
Shane sah, dass etwas aus der Dunkelheit auf sie zukam, sie bildete sich ein, den Umriss einer Person auszumachen, doch es konnten ebenfalls Schwaden aus Staub und Nebel sein, und als sie sich etwas nach vorn beugte und die Augen zusammen kniff, gab die Decke aus Stein über ihrem Kopf ächzend nach und fiel auseinander.
Die ersten Gesteinsbrocken kamen herunter und krachten auf den Boden, wo sie auseinander brachen. Sie trafen direkt auf die Stelle, an der sich die Mächte gekreuzt hatten. Von der Mitte aus breitete sich der Regen aus tonnenschwerem Stein aus und hätte Shane unter sich begraben, wenn sie sich nicht geistesgegenwärtig umgedreht hätte und die Stufen nach oben gerannt wäre.
Shane gähnte. Sie hatte kaum geschlafen, eigentlich überhaupt nicht, doch in ihren Adern wallte noch immer das Adrenalin, es hielt
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