Shanghai Love Story
über einer Stunde angefangen, und angesichts des Umstands, dass sie mit dem Fahrrad vierzig Minuten unterwegs sein würde, überlegte Anna ernsthaft, ob sie überhaupt hingehen sollte.
Warum kam er nicht? Sie hatten gestern einen netten Nachmittag miteinander verbracht â zumindest hatte sie das geglaubt â und sich die Sehenswürdigkeiten Shanghais von einem angenehm klimatisierten Taxi aus angeschaut. Seine Nähe auf dem Rücksitz des Wagens hatte ihr Herz schneller schlagen lassen. Sie hatte seinen Geruch eingeatmet und sein schönes Gesicht betrachtet. Abends war sie mit dem Gedanken an ihn zu Bett gegangen, und in der Nacht hatte sie von ihm geträumt, hatte sich in der Gewissheit gesonnt, dass es ihm genauso ging. Wenn man jemanden mochte, mochte der andere einen doch auch, oder? Aber Chenxis Gesicht verriet nichts. Ständig sah Anna sein herzliches, entschuldigendes Lächeln vor sich, ehe er aus dem Taxi gestiegen und in der Menge verschwunden war.
Sie wusste nicht genau, warum sie so besessen von ihm war. Immerhin kannte sie ihn ja kaum. Aber er hatte etwas an sich, das ihr jede Vernunft austrieb. Er war so geheimnisvoll, so unbefangen gut aussehend. Sie hatte noch nie für jemanden so empfunden wie für ihn. Vielleicht hatte er eine Freundin? War das der Grund, warum er nicht auftauchte? Wenn das der Fall war, hätte er es ihr gleich sagen sollen. Er musste doch gemerkt haben, wie es um Anna bestellt war, oder nicht? Warum also hatte er sie so angelächelt? Sie wurde schon wieder wütend auf ihn.
Empfand er es denn nicht als Ehre, aus all den Studenten der Akademie ausgewählt worden zu sein, um sich um sie zu kümmern? Ihr Vater hatte gesagt, dass jeder andere Chinese seinen rechten Arm für diese Chance hergeben würde. Und dann die ganzen Devisenscheine! Schenkte man seinen Worten Glauben, dann war es für einen chinesischen Studenten so gut wie unmöglich, an ausländische Währung heranzukommen â auÃer natürlich auf kriminelle Art und Weise. Die chinesische Währung war im Grunde genommen genauso viel wert wie Devisen, aber sie konnte auÃerhalb Chinas nicht gewechselt werden. Und so wurde für ein Yuan in Devisen auf dem Schwarzmarkt oft das Doppelte gezahlt. Nicht nur das: Mit Devisen konnte ein Chinese ausländische Waren einkaufen und sich an Orten aufhalten, die normalerweise nur Ausländern vorbehalten waren. Chenxi sollte dankbar sein für die Gelegenheit, die sie und ihr Vater ihm boten! Anna stand frustriert und gereizt auf. Sollte sie doch zum Schwimmen ins Konsulat gehen?
Sie versuchte gerade, sich zu entscheiden, ob sie die Pinsel aus Bambus und Wolfshaar in ihrer Tasche gegen einen Bikini eintauschen sollte, als es an der Tür klingelte. Natürlich war er gekommen, warum sollte er auch nicht? Sie warf die Tasche über ihre Schulter und hüpfte zur Tür. Aber noch bevor sie dort war, drehte sich ein Schlüssel im Schloss und die Tür ging auf. Zwei Frauen starrten jeweils in das Gesicht einer Fremden.
Die Aiyi fand als Erste ihre Sprache wieder. »Oh, entschuldige, entschuldige. Tochter? Du Mr White Tochter?«
»Ja«, sagte Anna enttäuscht. »Und Sie müssen die Aiyi sein.«
Für eine Haushaltshilfe war die junge Frau ziemlich aufgetakelt. Ihr Haar war mit einem Band aus schimmerndem Stoff mit glitzernden Steinen am Hinterkopf zusammengehalten, und ihr Pony bauschte sich elegant über ihrer Stirn. Sie trug Make-up, eine glänzende pinkfarbene Bluse und Riemchensandalen mit hohen Absätzen, wie fast alle Frauen in Shanghai.
»Ja, ja. Aiyi .« Die Chinesin kicherte über Annas Aussprache. »Wang. Mein Name Wang. Miss Wang.«
»Anna.«
Miss Wang strahlte. Wie in Trance ging sie auf Anna zu und befühlte ihre langen blonden Locken, gurrte und nickte dabei bewundernd. Anna stand still, damit die Aiyi ihre Neugier befriedigen konnte, obwohl es ihr gar nicht gefiel, ständig betatscht und angefasst zu werden. Miss Wang trat zurück und betrachtete Anna aus einiger Entfernung. »Mmm ⦠hen piaoliang! «
Anna zuckte mit den Schultern.
Die Aiyi kicherte wieder und ging dann rasch zu Mr Whites Bücherregal, um das Wörterbuch hervorzuholen. Sie befeuchtete sich mit der Zungenspitze den Daumen und blätterte durch die Seiten. Als sie fand, was sie suchte, grinste sie und hielt Anna das Buch hin, wobei sie mit ihrem Finger auf das
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