Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shanghai Love Story

Shanghai Love Story

Titel: Shanghai Love Story Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Rippin
Vom Netzwerk:
Kleidungsstücke, als Geschirrablage und als Standplatz für den Fernsehapparat. Das meiste, was Chenxi und seine Mutter besaßen, hatte in diesem Schrank Platz, und der Rest war zwischen und unter den Betten verstaut, hinter der Tür und unter Stühlen.
    Die Mitte des Raums wurde von einem kunstvoll geschnitzten Mah-Jong-Tisch eingenommen, auf dem eine dicke Glasplatte lag, unter der sich Dokumente befanden, Glückwunschkarten und Fotos: ein Passfoto von Chenxis Mutter, ein Foto von Chenxi als Baby. Aber das Foto von Chenxis Vater wurde in einer verschlossenen Schublade aufbewahrt.
    Chenxi zog sich schnell an, sprang dann die schmuddelige Treppe des Apartmenthauses Nr. 18 hinunter und ging zur Telefonzelle vor dem Gebäude.
    Â»Hallo Onkel«, sagte Chenxi grinsend. Er verbeugte sich vor dem alten Mann mit dem Megafon, dessen Aufgabe es war, die Bewohner des Gebäudes zu informieren, wenn ein Anruf für sie kam. Mit dem alten Mann musste man sich gut stellen; Chenxi brauchte das Telefon ziemlich oft. Der alte Mann nickte und trank aus seinem Teeglas. Chenxi hockte sich auf die Kante des Tischs und wählte die Nummer der Akademie.

    Â»Herr Direktor vielmals entschuldigen«, übersetzte die junge Sekretärin für Anna.
    Die drei saßen um den Tisch des Universitätsleiters: Anna, der Direktor und die Sekretärin, die ein wenig Englisch sprach. Der Direktor hatte Chenxi am Apparat.
    Â»Herr Direktor vielmals entschuldigen für Unannehmlichkeit. Chenxi sehr böse. Er viel Ärger. Dein Vater wütend, hm?« Diese Möglichkeit schien sie besonders zu beunruhigen.
    Â»Nein, gar nicht«, sagte Anna. »Es ist ja nichts passiert. Machen Sie sich keine Sorgen; mein Vater weiß von nichts.«
    Sie versuchte, sie zu beruhigen, aber die Atmosphäre in dem beengten Büro war bedrückt. Der Direktor sprach mit leiser, angespannter Stimme in den Telefonhörer, schaute hin und wieder zu Anna hoch und lächelte. Anna rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. In der Hitze klebten ihre Oberschenkel an dem Plastiksitz.
    Die Sekretärin wiederholte noch einmal, mehr zu sich selbst: »Ach ja! Chenxi viel Ärger.«
    Anna kaute auf der Unterlippe und dachte an ihre peinliche Ankunft in der Akademie. Der Fahrer hatte darauf bestanden, Anna bis auf das Gelände zu bringen. Sobald der Wächter am Tor sie entdeckt hatte, rief er den Direktor an, der samt seiner Sekretärin erschien. Beide waren entsetzt, weil die Ausländerin allein erschien. Anna war unter den starrenden Blicken hunderter Augen aus den umliegenden Fenstern in sein Büro geführt worden.

    Nach wenigen Minuten tauchte Chenxi im Büro des Direktors auf, atemlos und verschwitzt, aber mit dem gleichen gelassenen Lächeln auf den Lippen.
    Â»Tut mir leid«, flüsterte Anna. Ob ihm die ganze Sache wohl viel Ärger einbrachte? Aber Chenxi schaute sie nicht an.
    Der Direktor zischte Chenxi ein paar Worte zu, und dann sagte die Sekretärin zu Anna: »Chenxi sich um dich kümmern.« Dann führte sie die beiden hinaus.
    Sie gingen durch den Korridor und zwei Treppen nach oben. Im Korridor schauten Jungen aus den Türen und gafften, und Mädchen kicherten und zwirbelten ihre Haarsträhnen. Alle hatten nur Augen für Chenxi und die Ausländerin, und alle hatten etwas dazu zu sagen.
    Sie betraten einen großen, lichtdurchfluteten Klassenraum im obersten Stock des Gebäudes. Der Zementboden war mit Farbflecken bespritzt, und die kalkweißen Wände waren rau und mit schmutzigen Handabdrücken übersät. Sechs große Holztische standen entlang den Wänden, und die vier Jungen, die dort saßen, schauten auf, als Anna das Zimmer betrat. Erschrocken bemerkte sie, dass es in ihrer Klasse keine Mädchen gab.
    Lao Li kicherte Chenxi spöttisch zu und hob angesichts der kleinen Prozession die Augenbrauen. Die anderen Jungen johlten und pfiffen. Der Lehrer versuchte, die Klasse wieder zur Ordnung zu rufen. Einen Augenblick lang wünschte Anna, sie würde jetzt im Konsulat am Pool liegen.
    Â»Ich hoffe, du genießen Aufenthalt«, sagte die Sekretärin formell und deutete eine Verbeugung vor Anna an. Dann ging sie.
    Der Lehrer schlurfte zu Anna und sprach mit einer sanften Stimme auf sie ein. Dann streckte er ihr die Hand entgegen. Er war klein und ging gebückt, und er hatte so ungeheuer weit vorstehende Zähne, dass er seine dicken Lippen

Weitere Kostenlose Bücher