Shanghai Love Story
nicht schlieÃen konnte. Seine linke Hand bewegte sich um sein Kinn herum, als ob er seine Zähne dahinter verstecken wollte.
Anna zuckte mit den Schultern und blickte Hilfe suchend zu Chenxi.
»Das ist Lehrer Dai. Dai Laoshi«, sagte Chenxi und fügte dann einige schnelle Worte auf Chinesisch hinzu, woraufhin die Klasse in Gelächter ausbrach. Sogar Dai Laoshi konnte ein raffzahniges Grinsen nicht unterdrücken. Anna fühlte, wie ihr ein Rinnsal aus Schweià über die Wade lief. Sie schüttelte Dai Laoshi die Hand. Es war, als würde man einen kleinen, feuchten Frosch anfassen.
Wieder sagte Chenxi etwas, und seine vier Klassenkameraden setzten sich in Bewegung, schoben Tische hin und her und räumten Papier weg, bis Anna in einer Ecke einen eigenen Arbeitsplatz hatte. Aufmunternd klopfte Dai Laoshi mit der Hand auf die Tischplatte. Sie ging zu ihm und setzte sich auf den Stuhl. Als wieder Ruhe in der Klasse eingekehrt war, legte sie ihre jungfräulichen Pinsel vor sich, die Stangentusche, immer noch in Zellophan eingewickelt, den Reibstein und die Papierrolle. Nachdem sie nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, schaute sie sich im Zimmer um.
Die Studenten malten auf Seide. Neben jedem lag ein offenes Buch oder ein Gemälde, und sie kopierten die Malerei mit zierlichen Pinselstrichen auf den zarten Stoff. Anna erschrak bei dem Gedanken, mit einer solch schwierigen Ãbung zu beginnen, aber sie hätte sich keine Sorgen machen müssen; augenscheinlich hatte auch der Lehrer Zweifel, was ihre Fähigkeiten in der Seidenmalerei anging. Er empfahl ihr, dass sie den Rest des Vormittags einfach zuschaute, bis sie am Nachmittag ein lebendes Modell zeichnen würden. Chenxi übersetzte. Obwohl sie sich das Malen auf Seide selbst noch nicht zutraute, war Anna ein wenig enttäuscht, einfach so links liegen gelassen zu werden, aber sie hatte an diesem Morgen schon für genug Unruhe gesorgt, also lehnte sie sich zurück und schaute zu.
Chenxi arbeitete neben Anna. Sein Gesicht war bar jeden Ausdrucks. Er schaute nur ab und zu auf und murmelte dem schlaksigen Jungen mit der weichen Haartolle in der Stirn auf seiner anderen Seite etwas zu. Dann kicherte der Junge leise vor sich hin oder brüllte vor Lachen. Hin und wieder zuckten seine Augen zu Anna hin; es war nicht zu übersehen, dass sie der Gegenstand des Gesprächs war.
Sie schaute zu einem korpulenten, mondgesichtigen Jungen mit nikotingelben Zähnen hin, der seine Seide weggeschoben hatte und an einem kleinen Stück Pappe arbeitete. Als er ihren Blick auf sich spürte, hob er den Kopf und grinste sie an. Dann hielt er sein Werk hoch. Auf der Pappe prangte die Zeichnung einer üppigen Frau mit riesigen Brüsten, wild gelockten Haaren und strahlend blauen Augen. Darunter stand: ICH LIEBE DICH ! Die Jungen brachen in schallendes Gelächter aus und Anna wurde rot.
Dann wandte sich die Klasse wieder ihrer Arbeit zu und Anna fing an, sich zu entspannen. Manchmal warf ihr einer der Studenten einen Blick zu und lächelte sie an. Anna schaute wann immer möglich zu Chenxi, betrachtete seine Unterarme und sein schönes Profil, aber er war der Einzige, der sie ignorierte.
Eine halbe Stunde später vernahm Anna Gebrüll und Getrampel auf dem Flur. Der Lärm und das Stimmengewirr wurden lauter. Die Studenten spülten ihre Pinsel aus und erhoben sich.
Das Getrampel wurde immer heftiger. Zusammen mit den erregten und lautstarken Stimmen war das Getöse ohrenbetäubend. Dann kreischte eine Sirene auf, Anna dachte an einen Feueralarm und sprang auf.
»Essen! Essen!«, sagte Chenxi zu Anna und schob knarrend seinen Stuhl zurück.
Anna schaute auf ihre Armbanduhr. Es war erst halb zwölf. Mittagessen? Die anderen Jungen ihrer Klasse waren schon gegangen, sprangen lachend und schreiend durch den Flur. Anna war allein mit Chenxi und seinem groÃen, schlaksigen Freund. Der Junge kam mit wenigen langen Schritten auf Anna zu und streckte ihr seine feuchte Hand entgegen. Dabei schob er sich mit der anderen die Haartolle aus den Augen und grinste.
»Lao Li«, sagte er.
Anna wandte sich an Chenxi.
»Sein Name. Lao Li.«
»Lauli«, versuchte es Anna, und die beiden Jungen lachten. Aber es war ein freundliches Lachen. Anna forschte in Chenxis vollkommenem Gesicht. In seinen Augen lag nie auch nur ein Hauch von Bosheit, dachte Anna beruhigt, aber auch keine Zuneigung.
»Du
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