Shannara I
leichenblaß. Das Auftauchen dieser Erscheinung bestätigte ihn in seiner Überzeugung, daß ihre letzten Augenblicke gekommen seien. Allanon stand regungslos am Ufer, die Arme wieder gesenkt, den schwarzen Mantel um seine Riesengestalt gehüllt, das Gesicht dem Schatten auf dem See zugewandt. Er und die Gestalt auf dem Wasser schienen miteinander zu sprechen, aber die vier Zuschauer hörten nichts als die unaufhörlichen, unmenschlichen Schreie, die durch die Nacht hallten, während die Gestalt auf dem See gestikulierte. Das Gespräch, wie immer es geführt werden mochte, dauerte nicht länger als einige Minuten und endete, als der Geist sich ihnen zuwandte, die Skelettarme hob und auf etwas deutete. Shea spürte einen eisigen Hauch, der ihn streifte und ihm bis ins Mark drang, und er wußte, daß er für einen kurzen Augenblick vom Tod berührt worden war. Dann wandte sich der Schatten ab, grüßte Allanon mit einer letzten Geste, versank langsam im dunklen Wasser und war verschwunden. Als er unterging, brodelte der See von neuem, und die Schreie und das Stöhnen schwollen noch einmal an, bevor sie verklangen. Dann war der See glatt und ruhig, und die Männer waren allein.
Als die Sonne über dem Horizont aufging, schien die hohe, schwarze Gestalt am See zu schwanken, einen Augenblick später sank sie zu Boden. Die vier Männer zögerten kurz, dann liefen sie hinzu, erreichten den Gestürzten binnen Sekunden und beugten sich über ihn, ungewiß, was zu tun sei. Durin bückte sich schließlich, schüttelte Allanon ein wenig und rief seinen Namen. Shea rieb die großen, eiskalten Hände. Ihre Ängste lösten sich aber auf, als Allanon sich nach wenigen Minuten regte und die tiefliegenden Augen aufschlug. Er starrte sie eine Weile an, dann setzte er sich langsam auf.
»Die Belastung muß zu groß gewesen sein«, murmelte er und rieb sich die Stirn. »Nach dem Ende des Kontakts habe ich das Bewußtsein verloren. Es geht aber gleich wieder.«
»Wer war das Wesen?« fragte Flick, der sich sorgte, daß es wieder auftauchen könne.
Allanon schien über die Frage nachzudenken und starrte ins Leere, während sein verzerrtes Gesicht sich nur langsam entspannte.
»Eine verlorene Seele, vergessen von dieser Welt und ihren Bewohnern«, sagte er düster. »Er hat sich zu einem Dasein halben Lebens verurteilt, das die Ewigkeit überdauern mag.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Shea.
»Das ist im Augenblick nicht wichtig.« Allanon winkte ab.
»Die traurige Gestalt, mit der ich eben gesprochen habe, ist der Schatten Brimens, des Druiden, der einst gegen den Dämonen-Lord gekämpft hat. Ich sprach zu ihm vom Schwert von Shannara, von unserer Reise nach Paranor und der Bestimmung dieser Gruppe. Ich erfuhr wenig von ihm, ein Hinweis darauf, daß unser Schicksal nicht in naher Zukunft entschieden wird, sondern erst später - bei allen, bis auf einen.«
»Was meint Ihr?« fragte Shea zögernd.
Allanon stand müde auf, blickte ins Tal, als wolle er sich vergewissern, daß die Begegnung mit dem Geist Brimens vorüber war, dann wandte er sich den anderen zu.
»Es ist nicht leicht, das auszusprechen, aber ihr seid so weit gekommen, fast ans Ende eurer Reise. Ihr habt euch das Recht verdient, es zu erfahren. Der Schatten Brimens hat zwei Voraussagen über das Schicksal unserer Gruppe gemacht, als ich ihn aus der Zwischenwelt herauf rief, in die er verbannt ist. Er versprach, daß wir binnen zwei Tagen das Schwert von Shannara sehen würden. Er sah aber auch voraus, daß einer von uns die andere Seite der Drachenzähne nicht erreichen würde. Dabei soll er der erste sein, der die Hand auf das heilige Schwert legt.«
»Das begreife ich immer noch nicht«, sagte Shea stockend. »Wir haben Höndel verloren. Vielleicht hat er ihn gemeint.«
»Nein, du irrst dich, junger Freund.« Allanon seufzte leise. »Als er die zweite Prophezeiung aussprach, deutete der Schatten auf euch vier am Rand des Tales. Einer von euch wird Paranor nicht erreichen.«
Menion Leah kauerte lautlos zwischen den Felsblöcken an dem Weg, der zum Schiefer-Tal führte, und wartete auf das rätselhafte Wesen, das sie ins Gebirge verfolgt hatte. Auf der anderen Seite, verborgen in den schwarzen Schatten, lauerte der Prinz von Callahorn, das große Schwert in der Hand. Menion umklammerte seine eigene Waffe und starrte ins Dunkel. Nichts rührte sich. Er konnte etwa fünfzehn Meter weit sehen, bevor eine Biegung des Weges hinter einem riesengroßen Felsblock den Pfad
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