Shannara II
Blutfeuer-Brunnen. Dort muß das Samenkorn in das Feuer eingetaucht werden. Wenn das geschehen ist, muß es dorthin zurückgebracht werden, wo der alte Baum steht. Es wird dann Wurzeln schlagen, und ein neuer Baum wird daraus erwachsen und den Platz des alten einnehmen.«
Einzelheiten der Legende fielen Andor jetzt wieder ein - die Hervorbringung des Samenkorns, seine Weihe durch das Ritual am Blutfeuer-Brunnen, die Wiedergeburt. All diese Einzelheiten hatten die alten Gelehrten in der merkwürdigen, formalen Sprache jener Zeiten aufgezeichnet. Die meisten Elfen hatten diese uralten Geschichten längst vergessen oder sie nie gekannt.
»Und wo ist dieser Blutfeuer-Brunnen zu finden?« fragte der König unvermittelt.
Lauren sah ihn mit unglücklicher Miene an.
»Der Baum zeigte uns einen Ort, Herr, aber - aber wir konnten ihn nicht erkennen. Die Bilder waren zu schemenhaft, es schien beinahe so, als könne der Baum selbst den Ort nicht richtig beschreiben.«
Eventines Stimme blieb ruhig.
»Dann berichte mir, was euch gezeigt wurde. Ganz genau.«
Lauren nickte. »Es war eine Wildnis, die rundum von Bergen und Sümpfen eingeschlossen war. Nebelschwaden trieben darüber hin, die bald dichter wurden, bald sich lichteten. In dieser Wildnis ragte ein einsamer Berggipfel empor, und im Herzen dieses Berges schlängelte sich ein Gewirr von unterirdischen Gängen, die bis in die Tiefe der Erde reichten. Irgendwo in diesem Labyrinth gähnte eine Tür aus Glas - aus einem unzerbrechlichen Glas. Und hinter dieser Tür loderte der Blutfeuer-Brunnen.«
»Und Namen gibt es nicht für die einzelnen Teile dieses Rätsels?« erkundigte sich der König geduldig.
»Nur einen, Herr. Aber es war ein Name, der uns nicht bekannt war. Das Labyrinth, in dem der Blutfeuer-Brunnen verborgen liegt, heißt offenbar Sichermal.«
Sichermal? Andor überlegte angestrengt, doch der Name wollte ihm nichts sagen.
Eventine blickte Andor an und schüttelte sein greises Haupt. Er erhob sich, tat ein paar Schritte, blieb dann plötzlich stehen. Er wandte sich wieder an Lauren.
»Ist euch sonst noch etwas gesagt worden? Habt ihr sonst kein Zeichen bekommen?«
»Nichts. Das war alles.«
Der König nickte dem jungen Elf bedächtig zu.
»Gut, Lauren. Du hast recht getan, daß du damit sofort zu mir geeilt bist. Würdest du jetzt einen Augenblick draußen warten?«
Als die Tür sich hinter dem jungen Erwählten geschlossen hatte, kehrte Eventine zu seinem Sessel zurück und sank schwerfällig hinein. Sein Gesicht schien um Jahrzehnte gealtert, und seine Bewegungen glichen denen eines uralten Mannes. Manx trottete zu ihm und blickte aus mitfühlenden Augen zu ihm auf. Eventine seufzte und strich dem Hund müde über den Kopf.
»Habe ich zu lange gelebt?« murmelte er. »Wenn der Ellcrys stirbt, wie kann ich dann mein Volk vor dem beschützen, was geschehen wird? Ich bin der König der Elfen; ich bin für ihren Schutz und ihre Sicherheit verantwortlich. Das habe ich immer akzeptiert. Doch jetzt, zum erstenmal in meinem Leben, wünschte ich, es wäre anders…«
Er wandte den Kopf, um seinen Blick auf Andor zu richten.
»Nun, wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht. Da Arion ins Sarandanon gereist ist, werde ich deiner Hilfe bedürfen.« Andor errötete bei diesem unbeabsichtigten Hinweis darauf, daß er für den König nur an zweiter Stelle stand. »Begleite Lauren und befrage die Erwählten mit aller Sorgfalt. Vielleicht vermagst du noch etwas zu erfahren. Ich lasse mir inzwischen die alten Geschichtsbücher heraufholen und forsche darin.«
»Glaubst du, daß sich dort etwas findet - oder vielleicht in den alten Weltkarten?« fragte Andor zweifelnd.
»Nein. Es ist lange her, daß ich sie studiert habe, aber ich kann mich an nichts erinnern. Dennoch, was sonst können wir tun? Eine Chance, den Blutfeuer-Brunnen zu finden, haben wir nur, wenn wir mehr wissen als das, was Lauren uns mitzuteilen in der Lage war.«
Er nickte seinem Sohn zu, zum Zeichen, daß auch er nunmehr entlassen war. Andor eilte zu Lauren hinaus, um mit ihm zusammen in die Gärten des Lebens zurückzukehren, wo die anderen Erwählten ihrer harrten. Dort würde er versuchen, Genaueres über das geheimnisvolle Sichermal zu erfahren. Zwar schien ihm die Hoffnung gering, doch - wie sein Vater gesagt hatte - was sonst konnten sie tun?
Kapitel 4
Der Sommertag erlosch in einem leuchtenden Feuerwerk, das den westlichen Himmel in goldenes Rot und zartes Lavendel tauchte.
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