Shannara IV
Bretterwänden und Dachschindeln und sah im wahrsten Sinne des Wortes aus, als hätte es irgendwann einmal jemandem als Stall gedient. Im oberen Stockwerk über dem Schankraum und den hinteren Lagerräumen befanden sich die Schlafzimmer. Das Gebäude selbst stand auf einem Hügel am westlichen Rand der Stadt am Ende einer Reihe von Häusern, die alle zusammen in Hufeisenform angeordnet waren.
Par atmete tief die Nachtluft ein und genoß den Duft, den sie verströmte. Gerüche der Stadt, Gerüche des Lebens, Fleisch- und Gemüseeintöpfe mit den verschiedensten Gewürzen, stark riechende Schnäpse und herbe Biere, wohlriechende Düfte, Lederwerk, glühendes Eisen, das über glimmenden Kohlen geschmiedet wurde, der Schweiß von Tieren und Menschen, die auf engem Raum zusammen waren, der Geruch von Stein und Holz und Staub, der sich vermischte und gelegentlich einzeln wahrzunehmen war - er kannte sie alle. Am unteren Ende der Gasse, hinter den mit Brettern vernagelten und beschmierten Rückseiten der Läden, fiel der Hügel zur Mitte der Stadt hin ab. Die Stadt, die bei Tage nichts weiter war als eine häßliche und farblose Ansammlung von Gebäuden, ein Labyrinth von steinernen Mauern und Straßen, hölzernen Verschlägen und teergeschwärzten Dächern, zeigte bei Nacht ein anderes Gesicht. Die Gebäude verloren in der Dunkelheit ihre Umrisse. Tausende von Lichtern erhellten die Stadt und erstreckten sich wie ein riesiger Schwarm von Leuchtkäfern, so weit das Auge reichte. Sie übersäten die unsichtbare Landschaft und flackerten in der Finsternis, während sie auf ihrem Weg nach Süden goldene Spuren auf der flüssigen Haut des Mermidon hinterließen. Dann war Varfleet wunderschön, aus dem Aschenputtel war wie durch Zauberhand eine Prinzessin geworden.
Par freute sich an dem Gedanken, daß die Stadt von einem Zauber umgeben war. Er liebte die Stadt sowieso, liebte sie, wie sie sich vor ihm erstreckte, liebte die Menschen und Dinge, die miteinander verschmolzen, liebte das pulsierende Leben. All das ließ sich in keiner Weise mit Shady Vale, dem von Wald umgebenen Dorf, in dem er aufgewachsen war, vergleichen. Die Reinheit der Bäume und Flüsse, die Einsamkeit, das Gefühl der Sorglosigkeit, von der das Leben im Tal erfüllt war, gab es hier nicht. Die Stadt wußte nichts von jenem Leben und hätte sich auch nicht das Geringste daraus gemacht. Par machte sich darüber jedoch keine Sorgen. Er liebte die Stadt bedingungslos. Und schließlich gab es keine Anzeichen dafür, daß er sich zwischen den beiden entscheiden mußte. Es gab keinen Grund, warum er sich nicht an beiden erfreuen sollte.
Coll war natürlich anderer Meinung. Coll sah die Dinge ganz anders. In seinen Augen war Varfleet nichts weiter als eine gesetzlose Stadt am Rande der Föderationsherrschaft, ein Räubernest, ein Ort, an dem jeder nach seinen eigenen Gesetzen lebte. Für ihn gab es in ganz Callahorn, um nicht zu sagen im ganzen Südland, keinen schrecklicheren Ort als diesen. Coll haßte die Stadt.
Aus der Dunkelheit hinter ihm drangen Stimmen und der Klang klirrender Gläser, die Geräusche des Bierhauses, die durch eine offene Tür kurz zu hören waren, um dann, als die Tür wieder geschlossen wurde, zu verstummen. Par drehte sich um. Sein Bruder bewegte sich vorsichtig den Gang hinunter, sein Gesicht war in der Dunkelheit kaum auszumachen.
»Es ist fast Zeit«, sagte Coll, als er seinen Bruder erreichte.
Par nickte. Er wirkte klein und schmächtig im Vergleich mit Coll, einem großen, starken jungen Mann mit derben Zügen und gelblichen Haaren. Keiner, der sie nicht kannte, hätte sie für Brüder gehalten. Coll war ein typischer Mann aus dem Tal, gebräunt und derb, mit riesigen Händen und Füßen. Die Füße waren immer wieder Anlaß für Witze. Par verglich sie gern mit Entenfüßen. Er selbst war schmächtig und hellhäutig, seine Züge erinnerten, angefangen von seinen spitzen Ohren und Brauen bis hin zu seinen hohen, schmalen Backenknochen, unmißverständlich an einen Elfen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der es in der Familie beinahe kein Elfenblut mehr gab, und zwar deshalb, weil die Ohmsfords generationenlang immer im Tal gelebt hatten. Dann aber, vor vier Generationen (das wußte er von seinem Vater), war sein Ururgroßvater in das Westland zu den Elfen zurückgekehrt, hatte ein Elfenmädchen geheiratet, und die beiden hatten einen Sohn und eine Tochter bekommen. Der Sohn hatte wiederum ein Elfenmädchen geheiratet, und dann
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