Shannara V
es bestand kein Zweifel an ihrer ursprünglichen Funktion. Die Röhren, aus denen sie bestanden, waren mehr als sechs Meter hoch. Wie alles andere, waren auch sie versteinert. Sie folgten ihnen, und Walkers Behelfsfackel warf einen silbrigen Schimmer in die Schwärze, und ihre Schritte hallten dröhnend durch die Stille. Nicht mehr als hundert Meter von der Stelle entfernt, wo sie die Kanalisation betreten hatten, war ein riesiges Loch in die Seitenwände der Röhre gerissen worden. Sie waren zerfetzt, als bestünden sie aus Papier. Etwas von gewaltiger Größe hatte sich durch den Fels gegraben, so riesig, daß die Kanalröhre nicht mehr als ein Strohhalm in seinem Weg gewesen war.
Aus der schwarzen Leere des gegrabenen Tunnels schallte das Rumpeln des Malmschlunds. Hastig überquerten sie die geröllübersäte Öffnung und gingen weiter.
Zwei Stunden lang wanderten sie durch das Kanalsystem unter der Stadt und fahndeten vergeblich nach dem Versteck des Steinkönigs. Sie folgten den Windungen und Kurven und hatten bald jegliche Orientierung verloren. Von diesem Niveau führten weniger Treppen nach oben, und viele von ihnen waren nichts als Leitern an den Wänden der Abflüsse. Sie stießen einige Male auf die Grabtunnel des Malmschlunds, gähnende Öffnungen, die nach oben in die Stadt führten und dann wieder nach unten verschwanden, schwarze Löcher, die groß genug waren, ganze Gebäude zu verschlucken. Morgan starrte in jene Kluften, machte sich bewußt, daß der Fels der ganzen Halbinsel davon durchzogen sein mußte, und wunderte sich, daß die Stadt nicht einfach , einstürzte.
Kurz nach Mittag machten sie halt, um zu rasten und etwas zu essen. Sie fanden eine Treppe, die zum ersten Niveau hinaufführte, und kletterten auf einen der verlassenen Bahnsteige, wo ein paar versteinerte Bänke standen. Dort ließen sie sich nieder. Walkers Fackel steckte in einem Geröllhaufen und warf ihr Licht wie einen Heiligenschein auf sie. Wortlos starrten sie in die Schatten.
Morgan war vor den anderen fertig und ging zu einer Stelle, wo ein schmaler Lichtstrahl durch einen Treppenschacht, der zu den Straßen der Stadt führte, hereinfiel. Er setzte sich hin und starrte nach oben, dachte an bessere Zeiten und Plätze und fragte sich verzagt, ob er sie wohl je wieder erleben würde.
Carisman kam herüber und setzte sich neben ihn. »Es wäre schön, mal wieder die Sonne zu sehen«, sagte der Sänger nachdenklich und lächelte schwach, als Morgan ihn anschaute. »Wenigstens für einen kleinen Augenblick.« Er fing zu singen an:
»Finsternis für Katzen ist, für Fleder- und and’re Mäuse,
für uns nicht, die den Sonnenschein so über alles lieben.
In Eldwist ist es kalt und trüb, nur steinernes Gehäuse.
Ach, fort von hier ins Sonnenlicht. Wo ist es nur geblieben?«
Er grinste reichlich traurig. »Ist das nicht ein gräßlicher Knittelvers? Wahrscheinlich das schlechteste Lied, das ich je komponiert habe.«
»Woher kommst du, Carisman?« fragte Morgan. »Ich meine, vor den Urdas und Rampling Steep. Wo bist zu Hause?«
Carisman schüttelte den Kopf. »Irgendwo, überall. Ich bin zu Hause, wo ich gerade bin, und ich bin fast überall gewesen. Seit ich laufen kann, bin ich herumgereist.«
»Hast du eine Familie?«
»Nein. Nicht daß ich wüßte.« Carisman zog die Knie vor die Brust und umfaßte sie mit den Armen. »Wenn ich hier ums Leben komme, gibt es niemanden, der sich fragt, was aus mir geworden ist.«
»Du wirst nicht sterben«, fauchte Morgan ihn an. »Keiner von uns, wenn wir aufpassen.« Die Eindringlichkeit von Carismans Blick war ihm unbehaglich. »Ich habe eine Familie. Vater und Mutter drüben im Hochland. Und zwei jüngere Brüder. Ich habe sie seit Wochen nicht gesehen.«
Carismans hübsches Gesicht hellte sich auf. »Ich habe vor ein paar Jahren das Hochland bereist. Es ist ein wunderschönes Land, die Hügel ganz purpurn und silbrig im Morgenlicht, fast rot, wenn die Sonne untergeht. Es war ruhig dort oben, so still, daß man die Vögel aus weiter Ferne singen hören konnte.« Er wiegte sich hin und her. »Ich hätte glücklich sein können, wenn ich dort geblieben wäre.«
Morgan musterte ihn eine Weile, beobachtete, wie er ins Leere starrte, gefangen in einer inneren Vision. »Ich habe vor, zurückzugehen, wenn wir diese Angelegenheit hier hinter uns haben«, sagte er. »Warum kommst du nicht mit zu mir nach Hause?«
Carisman sah ihn aufmerksam an. »Ginge das? Ich käme gerne
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