Shannara V
sich selbst den Kopf. Nein, nicht Tiger Ty. Sie hielt ihn für zuverlässig. Er würde nicht aufgeben, sagte sie sich. Nicht, solange es noch Hoffnung gab.
»Phfffft! Wir müssen bald anhalten«, warnte Stresa. »Hsssst. Und einen Unterschlupf finden, bevor es dunkel wird und der Wisteron auf die Jagd geht!«
»Laß uns noch ein wenig weitergehen«, schlug Wren vor. Sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben.
Sie gingen weiter, aber Gavilan Elessedil war nicht zu finden. Seine unregelmäßige Spur zog sich vor ihnen dahin, wand sich voraus in den In Ju - eine Reihe geknickter und abgebrochener Stengel und Blätter, die in den Schatten verschwand.
Schließlich gaben sie es auf. Stresa fand in dem hohlen Stumpf eines Banyan, der vom Alter und der Erosion gefällt worden war, einen Unterschlupf für sie, einem massiven Stamm mit Gängen in seinem Wurzelstock und einem engen Spalt weiter oben. Sie verbarrikadierten den größeren Gang und setzten sich zum Wachehalten vor den kleineren. Nichts, wie klein es auch war, konnte an sie herankommen. Es war dunkel und eng in ihrem hölzernen Versteck und so trocken wie in Wintererde. Die Nacht senkte sich herab, und sie lauschten dem Erwachen der Dschungeljäger, dem rauhen Brüllen, den Geräuschen langsamen Vorbeiziehens und den Klagen der Beuteopfer, die gefangen und getötet wurden. Sie kauerten sich Rücken an Rücken vor das schwache Licht. Sie hielten abwechselnd Wache, dösend, weil sie zu müde waren, um wach zu bleiben, aber auch zu ängstlich, richtig zu schlafen. Faun lag so still wie der Tod in Wrens Armen geborgen. Sie streichelte das kleine Wesen zärtlich und fragte sich, wie es in einer solchen Welt hatte überleben können. Sie dachte daran, wie sehr sie Morrowindl haßte. Es war ein Dieb, der ihr alles genommen hatte - die Leben ihrer Großmutter und ihrer Freunde, die Unschuld, die sie den Elfen und ihrer Geschichte gegenüber empfunden hatte, die Liebe und Zuneigung für Gavilan, die sie in sich entdeckt hatte, und das Vertrauen in ihre Willenskraft, die sie für unverlierbar gehalten hatte. Deren Verlust war es, was sie am meisten beunruhigte, der Verlust ihres Vertrauens darauf, wer und was sie war, und der Sicherheit, ihr eigenes Schicksal bestimmen zu können. So vieles war verloren, und Morrowindl, dieses frühere Paradies, das in einen Alptraum der Schattenwesen verwandelt worden war, hatte ihr dies alles genommen. Sie versuchte, sich das Leben jenseits der Insel vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Sie konnte nicht weiter denken als bis zu einer Flucht von der Insel, denn ihr Entkommen war noch immer ungewiß, ihr Schicksal hing noch in der Schwebe. Sie erinnerte sich daran, daß sie einst gedacht hatte, die Reise zu Allanon und das Gespräch mit ihm könnten der Anfang eines großen Abenteuers sein. Die Erinnerung daran schmeckte schal.
Sie schlief eine Zeitlang, träumte von dunklen und furchtbaren Wesen und wachte erhitzt und schwitzend wieder auf. Als sie Wache hielt, bemerkte sie, daß ihre Gedanken immer wieder zu Gavilan abschweiften, zu kleinen Erinnerungen an ihn - die Art, wie er sie berührt hatte, das Gefühl seines Mundes auf dem ihren und das Wunder, das er in ihr durch nicht mehr erweckt hatte als durch eine beiläufige Bemerkung oder einen Blick, mit dem er sie streifte. Sie lächelte bei der Erinnerung. Es hatte so vieles an ihm gegeben, was sie gemocht hatte, daß sein Verlust sie schmerzte. Sie wünschte, sie könnte ihn wieder zurückbringen und erneut in den Menschen verwandeln, der er gewesen war. Sie wünschte sogar, sie wüßte einen Weg, die Magie das tun zu lassen, was die Natur nicht tun konnte - die Vergangenheit zu ändern. Es waren sinnlose Gedanken, und sie quälten sie gnadenlos. Gavilan war für sie verloren. Er war dem Wahnsinn Morrowindls zum Opfer gefallen. Er hatte Dal getötet und den Ruhkstab gestohlen. Er hatte sich in etwas Ungeheuerliches verwandelt. Gavilan Elessedil, den Mann, zu dem sie sich so hingezogen gefühlt hatte und um den sie sich so gesorgt hatte, gab es nicht mehr.
Bei Tagesanbruch erhoben sie sich und setzten ihren Weg fort. Sie mußten sich nicht um ein Frühstück kümmern, weil sie nichts mehr zu essen hatten. Ihre Vorräte waren erschöpft, wo sie nicht ohnehin verloren oder zurückgelassen worden waren. Es gab noch ein wenig Wasser, aber nicht mehr, als für einen Tag ausreichend war. Im In Ju würden sie auch nichts finden, was sie ernähren konnte. Ein weiterer Grund, schnell
Weitere Kostenlose Bücher