Shaos Todeswelt
ihre Waffe nicht loslassen wollen, und das wurde ihr jetzt zum Verhängnis.
Das Gewicht der Waffe zerrte sie zusätzlich in die Tiefe. Sie verlor den Kontakt mit der Brücke, die wild schwang und klappernde Geräusche verursachte.
Die am Schluchtrand stehende Shao hörte sie nur am Rande. Sie vernahm auch keinen Schrei. Ihr Pendant stürzte lautlos in die Tiefe.
Ausweichen konnte sie den Pfählen nicht.
Bäuchlings fiel sie in die dunkle Schlucht. Und diesmal freute sich Shao darüber. So war kaum zu sehen, wie ihr Pendant aufgespießt wurde. Als regloser Klumpen blieb sie dort liegen. Sie explodierte nicht, es gab auch keinen Lichtblitz, der dem Spieler anzeigte, dass eine Person vernichtet war. Es passierte überhaupt nichts. Für Shao aber war schon genug passiert.
Ein Opfer hatte die Welt gekostet. Sie und Amaterasu waren zurückgeblieben. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als denselben Weg zu nehmen. Eine andere Chance gab es nicht.
Shao starrte die ›Sonnengöttin‹ an. Sie wollte eine Frage stellen, aber Amaterasu kam ihr mit der Antwort zuvor.
»Ja, ich habe es gesehen. Aber es gibt keinen anderen Weg.«
»Ja, das ist leider so.« Shao runzelte die Brauen. Sie wechselte das Thema und sagte: »Ich wünsche mir, du wärst die echte Sonnengöttin, meine Liebe. Ja, das wäre ein Traum.«
»Warum das?«
»Sie ist so mächtig, obwohl sie in der Dunkelwelt gefangen gehalten wird.«
»Du bist doch bisher auch ohne ihre Hilfe zurechtgekommen, Shao.«
Die Chinesin nickte.
»Das ist schon wahr. Wenn ich dich allerdings ansehe, dann frage ich mich, wer du wirklich bist. Zwar siehst du aus wie Amaterasu, aber ich glaube nicht, dass du die echte bist.«
»Das ist wohl wahr. Ich bin nicht echt, aber in mir steckt etwas von ihrer Kraft. Da hat sie die Brücke geschlagen. So war es doch auch bei dir und Suko.«
»Ja - schon…« Shao lächelte verloren, als sie an Suko dachte. Leise stöhnte sie auf. Sie wünschte sich so sehr den Kontakt mit ihrem Partner. Gerade jetzt wäre er wichtig gewesen, aber die geistige Brücke war nicht entstanden, und Shao kam sich noch verlorener vor, als hätte man sie in eine weite Welt hineingeschafft, in der es keine Rückkehr mehr gab. Obwohl sie als Phantom mit der Armbrust in diese Welt hineingeraten war, musste sie doch zugeben, hilflos zu sein, denn sie wurde von den Regeln des Spiels manipuliert.
Um Shao II tat es ihr leid. Es war nicht eben angenehm für sie gewesen, den Tod einer Person zu erleben, die ihr praktisch aufs Haar glich. Darüber musste sie aber hinwegkommen.
Amaterasu spürte etwas von der tiefen Traurigkeit, die Shao überkommen hatte. Deshalb streckte sie die Hand aus und streichelte die Wange der Chinesin.
Shao lächelte. »Es ist schon gut«, sagte sie nach einer Weile. Sie hielt die Hand der Sonnengöttin fest. »Wir beide werden es schaffen. Wir kennen jetzt die Gefahr.«
»Ja, aber du wirst allein handeln können. Du wirst dir vorstellen, was du zu tun hast. Du kannst dann das Richtige unternehmen, während ich mich auf die richtige Reaktion des Spielers verlassen muss. Das darfst du auch nicht vergessen.«
»Ich werde mich bemühen«, flüsterte die Chinesin. Dann sagte sie: »Lass uns gehen.«
»Willst du die Führung übernehmen?«
»Ja, wenn du nichts dagegen hast.«
»Nein, habe ich nicht. Du kannst gehen. Ich bleibe immer hinter dir und werde aufpassen.«
»Gut. Drücken wir uns die Daumen.«
Shao handelte ebenso wie ihr Pendant. Sie konnte die Hängebrücke nicht einfach betreten. Sie musste sich erst an den Rand der Schlucht setzen und versuchen, mit den ausgestreckten Beinen die Bohlen zu erreichen. Die Armbrust und auch der Köcher mit den Pfeilen sorgten für eine zusätzliche Gewichtsbelastung. Als Shao saß, sah sie die Trittstellen aus der Nähe. Dunkle Planken, die möglicherweise rutschig waren, so dass sie Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht bekommen konnte. Hart presste sie die Lippen zusammen und atmete zunächst nur durch die Nase. Ihren Herzschlag konnte sie nicht beeinflussen. Er hörte sich laut an, eine Folge der Aufregung.
Die erste Berührung mit den Bohlen war normal. Mit dem zweiten Bein stieg Shao nach, und sie merkte sofort, wie instabil die Brücke war. Sie fing an zu schwanken, so dass Shao sich an den Seiten festhalten musste. Sie blieb stehen. Es war ungewöhnlich. Sie glaubte in der Luft zu schweben, trotzdem musste sie weiter.
Shao bewegte ihre Beine sehr langsam. Sie erinnerte dabei an ein Kind,
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