Shaos Todeswelt
das laufen lernt. Schritt für Schritt nahm sie denselben Weg, den auch ihr Pendant gegangen war.
Dabei rutschten die Hände über die Halteseile hinweg. Dass Shao II in die Tiefe gefallen war, daran wollte sie nicht denken. Es kam nun einzig und allein auf sie an. Ich muss es schaffen! Hämmerte sie sich immer wieder ein.
Hinter Shao hatte auch die Figur der Amaterasu die Brücke betreten. Das war auch für Shao deutlich zu spüren, denn sie bekam auch die anderen Bewegungen mit. Da senkte und hob sich die Hängebrücke, als würde sie auf dem Wasser schwimmen.
Shao wollte nicht an einen Fehltritt denken und auch nicht an Amaterasu. Es ging einzig und allein um sie und den Weg, den sie noch vor sich hatte.
Shao hielt den Blick gesenkt. Es war möglicherweise falsch, aber sie wollte einfach sehen, wohin sie trat und jede Stufe genau abtasten.
Noch hielten die Bohlen. An einigen Stellen waren die Bohlen herausgebrochen. Um diese Lücken zu überwinden, mussten die Schritte größer und somit gefährlicher werden, das war Shao klar.
Ihr Pendant hatte es geschafft, und Shao ging davon aus, dass auch sie es packen würde.
Ja, es klappte.
Sie konnte die Lücke mit einem großen Schritt überwinden und fand auf der anderen Seite halbwegs Halt.
Shao klammerte sich an den Halteseilen fest. Die Brücke schwankte zwar noch, aber sie kippte nicht, wie es zuvor bei Shao II der Fall gewesen war. Die Chinesin rührte sich nicht. Sie blieb auf der Planke stehen, hielt die Augen halb geschlossen und atmete durch den offenen Mund. Allmählich beruhigte sich die Brücke wieder. Aber Shao wusste genau, dass Amaterasu die Lücke noch überwinden musste.
Sehr langsam drehte die Chinesin den Kopf.
Die virtuell geschaffene Sonnengöttin stand auf dem Fleck. Vor ihr lag die Lücke. Shao rechnete kurz nach und kam zu dem Ergebnis, dass mindestens drei Sprossen fehlten.
Schaffte es Amaterasu?
Noch bewegte sie sich nicht. Beide Hände lagen auf den Seilen und klammerten sich dort fest. Das Gesicht der anderen wirkte bleich, und Shao nickte ihr zu, bevor sie ihr die linke Hand entgegenstreckte. »Komm, ich helfe dir.«
Amaterasu sagte nichts. Sie starrte Shao nur an. Ihr Gesicht war so bleich wie kaltes Fett, über das sich Schatten gelegt hatten. Große, starre und dunkle Augen, in denen kein Sonnenlicht mehr schimmerte.
»Denk an die Hand!« flüsterte Shao ihr zu.
»Ja, das mache ich.«
Shao war nicht sehr optimistisch. Sie konnte nicht sagen, ob eine virtuell geschaffene Figur Angst verspürte, wahrscheinlich nicht, aber in dieser Person hatte sich der Geist der echten Sonnengöttin niedergelassen, und da konnte es schon zu Gefühlen kommen.
»Jetzt!« sagte Shao.
Und Amaterasu gehorchte. Mit dem rechten Bein begann sie.
Den Fuß hob sie an, dann streckte sie das Bein aus, um einen langen Schritt zu machen.
Shao blieb auf ihrem schmalen Balken stehen. Es hatte keinen Sinn, wenn sie zurückging, denn sie musste die andere Person anfassen, um ihr helfen zu können.
Auch Amaterasu hatte ihren Arm ausgestreckt. Es kam zum ersten Kontakt. »Ja!« sagte Shao und zog etwas.
Die andere schwebte jetzt über der Lücke. Ihr Schritt war groß genug gewesen, um den vor Shao schwebenden Balken zu erreichen. Der Fuß bekam Kontakt, und Amaterasu verlagerte ihr Gewicht auf die einzige Stelle.
Zuviel Gewicht.
Der Balken brach.
Shao hörte das Geräusch. Es klang nicht mal laut, aber in ihrem Kopf dröhnte es. Der Balken splitterte in der Mitte, aber Shao hatte die Hand der Sonnengottin nicht losgelassen. Sie hielt so hart wie möglich fest und glaubte daran, dass sich Amaterasu noch fangen konnte.
Ein Irrglaube.
Es gab keinen Halt mehr unter den Füßen der Sonnengöttin.
Amaterasu sackte in die Tiefe, und sie riss Shao dabei mit…
***
Suko spielte.
Er versuchte alles. Er war vorsichtig. Fr stand unter einer irrsinnigen Spannung, und er hatte dabei die Figuren so weit geführt, dass sie jetzt vor der Hängebrücke standen.
Zwischendurch hatte sich Cheng immer mit bissigen Kommentaren gemeldet, durch die sich Suko glücklicherweise nicht ablenken ließ. Ich konnte meinen Zorn kaum zügeln. Am liebsten hätte ich in das Gesicht des Mannes hineingeschlagen, aber das Risiko, mir dabei eine Kugel einzufangen, wollte ich nicht eingehen.
Im Konferenzraum war die Luft schlecht geworden. Eine Klimaanlage gab es nicht. Es roch nach Schweiß, es war schwül, und auch auf meinem Gesicht klebte die ölige Schicht fest.
Man ließ es
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