Sharras Exil
jetzt sind beide, er und sein Bruder, immer noch mit Sharra verbunden …«
Regis erklärte: »Und ich auch, Schwester – oder hast du nicht zugehört?«
Sie hob die Augen zu ihm auf und fragte ungläubig: »Du?«
Mit zitternden Fingern fasste Regis nach seiner Matrix. Zögernd nahm er sie aus ihrer Seidenumhüllung. Er dachte daran, wie Javanne ihn vor Jahren gelehrt hatte, sie zu benutzen, und auch sie dachte daran, denn sie sah ihn an, ihr zorniger Blick wurde weich, und dann lächelte sie ihm zu. In ihrem Geist war das alte Bild: Das Mädchen, das sie gewesen war – selbst mutterlos, bemüht, dem kleinen Bruder die Mutter zu ersetzen –, beugte sich über ihn, wie sie es damals so oft getan hatte, und hob ihn in ihren Armen hoch … Einen Augenblick lang war die hartgesichtige Frau, die Mutter erwachsener Söhne, verschwunden, und sie war die sanfte, liebevolle Schwester von einst.
Regis sagte leise: »Es tut mir Leid, Breda , aber Dinge gehen nicht weg, weil man sich vor ihnen fürchtet. Mir wäre es lieber, du müsstest dies nicht sehen.« Er seufzte und ließ den blauen Kristall in seine Handfläche fallen.
Es tobte und flammte in seinem Geist, das Feuerbild … eine große, zuckende Gestalt, eine Frau, hoch gewachsen, in Flammen gebadet, das Haar flatternd wie ruhelose Flammenzungen, die Arme in goldenen Ketten … Sharra!
Vor sechs Jahren auf dem Höhepunkt der Sharra-Rebellion war sein Laran gerade erst erweckt gewesen. Er hatte zudem die Schwellenkrankheit und war halb tot, und Sharra bedeutete ihm nur einen Schrecken mehr unter den Schrecken jener Zeit. Als sie ihm in Marius’ Haus kurz erschienen war, hatte der Schock es ihm unmöglich gemacht, seine Gefühle zu analysieren. Jetzt fasste ihn etwas Kaltes bei der Kehle, das Fleisch zuckte ihm auf den Knochen, jedes Haar seines Körpers stellte sich langsam aufrecht, zuerst an seinen Unterarmen, dann überall. Regis wusste nicht, woher ihm die Überzeugung kam, dass er auf einen sehr alten Feind seiner Rasse und seiner Kaste blickte. Etwas in seinem Körper, zelltief, knochentief, erkannte ihn. Übelkeit schüttelte ihn, und er hatte den sauren Geschmack des Entsetzens im Mund.
Verwirrt dachte er: Aber Sharra ist doch von dem Schmiedevolk benutzt und in Ketten gelegt worden! Bestimmt erinnere ich mich nur an die Zerstörung, als Sharra loskam, an die in Flammen aufgehende Stadt … das ist nicht schlimmer als ein Waldbrand – aber es war schlimmer, es war etwas, das er nicht begreifen konnte, das sich mühte, ihn in sich hineinzuziehen … Erkennen, Furcht, eine fast sexuelle Faszination …
»Aaahh …« Ein entsetztes Aufstöhnen. Er hörte, sah, fühlte Javannes Gedanken, die sich vor Angst verknäulten. Sie griff nach der Matrix unter ihrem Halsausschnitt, als habe sie sie verbrannt, und Regis riss seine Gedanken und seine Augen mit gewaltiger Kraftanstrengung von dem aus seiner Matrix hervorflammenden Feuerbild los. Aber Javanne versank in Grausen und Faszination …
Ein Etwas in Regis, das lange geschlafen, an das er nie gedacht hatte, erwachte. Es war, als nehme ein geübter Schwertkämpfer das Heft in die Hand, ohne zu wissen, welche Bewegungen er vollführen, welchen Streichen er begegnen wird, aber voller Sicherheit, dass er seinem Gegner gewachsen ist. Regis spürte, wie das Etwas sich erhob und das, was er als Nächstes tat, kontrollierte. Er fasste in die Tiefen des Feuers, entflocht behutsam Javannes Geist, tat es so präzise, dass er das Feuerbild nicht einmal berührte … Wie eine Marionette, deren Fäden zerschnitten worden sind, sank Javanne ohnmächtig auf ihrem Sitz zusammen. Gabriel fing sie mit finsterem Gesicht auf.
»Was hast du getan?«, fragte er. »Was hast du ihr angetan?«
Javanne, halb bei Bewusstsein, blinzelte. Vorsichtig wickelte Regis seine Matrix wieder ein. Er sagte: »Sie ist auch dir gefährlich, Javanne. Komm ihr nicht wieder nahe.«
Danvan Hastur hatte bestürzt beobachtet, wie sein Enkel und seine Enkelin gelähmt vor Entsetzen starrten und sich dann zurückzogen. Durch Regis’ müden Geist zog der Gedanke, dass sein Großvater wenig Laran besaß. Regis selbst verstand nicht, was er getan hatte, er wusste nur, dass er bis ins Mark erschüttert, erschöpft und so müde war, als habe er drei Tage und drei Nächte lang gegen einen Waldbrand angekämpft. Geistesabwesend griff er nach einem Teller mit warmen Brötchen, strich sich dick Honig auf eins und schlang es hinunter. Er spürte, wie der Zucker
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