Sherlock Holmes - Das ungelöste Rätsel
könnte ich mich auf ihn stürzen und ihn niederringen. Eiseskälte kroch meinen Nacken hinauf.
Der aus dem Nichts materalisierende Dolch. Der Lichtblitz. Was ich gesehen hatte, war alles andere als normal. War dieser Mann am Ende gar nicht durch herkömmliche Mittel zu verletzen?
Bruchstücke fügten sich zusammen. Die Ägyptenausstellung hatte Artefakte und Mumien nach England gebracht. Die Ägypter glaubten, dass ihre Seelen nach dem Tod Gestalt annehmen und mit den Lebenden kommunizieren konnten. Alte Texte beschrieben diese Seelenform als Vögel mit menschlichen Köpfen. So einen hatten Mary und Jack gesehen. „Du bist der Vogelmann!“, rief ich.
War es das Erstaunen über diese Erkenntnis oder erholten sich meine Augen wirklich? Als ich die Lider öffnete, stand ich in dichtem Nebel, der immerhin greifbarer war als die dimensionslose weiße Wand zuvor.
Aber ich hatte zu früh zu hoffen gewagt. Ich spürte noch einen Luftzug an der Seite, dann traf etwas meine Wade mit der Wucht eines Hammerschlags. Ein Knochen brach, und das Bein gab nach.
Ich wankte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, als mir jemand in die Kniekehle trat. Blind kippte ich nach vorne, versuchte mich abzufangen, ohne dass sich ein Schuss löste, landete hart. Der gebrochene Knochen jagte Schmerzwellen durch mein Bein. Die Gegenwart des Priesters legte sich wie ein erdrückender Umhang über meine Sinne.
„Etwas ist um deine Seele“, hörte ich gedämpft.
Der Nebel ringsum wurde merklich milchiger, ich glaubte mit einiger Anstrengung sogar, etwas darin aufblitzen zu sehen. Ich erhob mich in kauernde Haltung, boxte in die Luft, um den Feind abzuwehren, und erntete nur Gelächter.
„Gute Anlagen“, murmelte der Priester, und die Worte wirbelten um mich her wie welkes Laub. „Ein Jammer, du hast nie gelernt, deine Seele auszusenden. Aber bald genug wird sie ohnehin von deinem Leib befreit sein.“
Mit einem unerprobten Sinn erahnte ich eine Bewegung und warf mich zur Seite. Das lahme Bein schleifte über den Boden und frischer Schmerz zuckte längs meiner Brust.
Dann schrie ich erneut auf, als sich kalter Stahl in meinen Oberarm bohrte. Schmerzerfüllt ließ ich den Revolver fahren.
Endlich . Eine Stimme wehte durch meinen Geist. Nein, es war unmöglich. Der Schock hatte wohl meine Gedanken verwirrt.
Ich hörte Watson !
„Willst du Osiris betrügen, Priester, und ein fremdes Herz für deins ausgeben?“
Die Qualen klärten auf rätselhafte Weise meine Wahrnehmung und meinen Blick. Weiches Licht erfüllte mein Bewusstsein, und ich sah einen Vogel. Dann streckte sich die Gestalt und wurde zum Bild meines alten Freundes. Doch Watson sprach nicht zu mir .
„Deine Seele konnte nicht in die Unterwelt eingehen, Sonnenpriester. Und du hast sie durch deine Taten noch mehr befleckt“, sagte er.
„Ich warte schon so lange darauf. Auf den Schatten des Mittags ohne Zeit“, hörte ich den Ägypter siegessicher.
Und an meiner Seite stand immer noch Watson. Nein, das konnte nicht sein. Mir schwindelte. Aber was immer es war, es lenkte den Priester ab. Ich reckte also den verletzten Arm nach der Waffe und biss die Zähne zusammen, als sich meine Finger um den Lauf schlossen. Langsam zog ich die Webley heran. Die Rechte zuckte unkontrolliert. Mit den durchtrennten Muskeln verbot sich jeder Gedanke an einen Schuss. Ich sackte kraftlos zusammen.
Die beiden Gestalten vor mir, Schatten gegen den langsam gold-farbener werdenden Hintergrund, redeten immer noch.
„Du fürchtest zu Recht das Gericht des Osiris“, sagte Watson mit Blick auf den triumphierenden Ägypter. „Deswegen hast du einen Plan ersonnen, die Kraft des reinen Herzens in den stählernen Strahl des Ra aufzunehmen. Damit willst du dein Herz läutern, ehe man es gegen eine Feder aufwiegt.“
Ich wusste nicht, dass Watson jemals so bewandert in Mythologie gewesen war. Außerdem war er tot. Und doch erblickte ich ihn vor mir. Keuchend atmete ich aus und versuchte, den Revolver zu stabilisieren.
Der Priester nickte. „Es stimmt. Aber wer immer du bist, körperlose Seele, du kannst mich nicht aufhalten. Beide vermagst du nicht zu schützen.“ Er kehrte dem Doktor einfach den Rücken zu und trat zu dem Kind.
Watson drehte sich zu mir um, eine stumme Bitte im Blick.
„Mein Freund“, flüsterte ich und wies auf meine Wunde. Vergeblich versuchte ich, auf die Beine zu kommen.
„Ich will Ihnen helfen“, versprach Watson und erklärte hastig: „Er hat sich einen
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