Sherlock Holmes - Der Hund von Baskerville
für mich nicht schwer zu erraten, daß nur sie es sein konnte, der Ihr Besuch galt.
Denn sie ist die einzige Person in Coombe Tracey, die uns in dieser Angelegenheit weiterhelfen kann. Ja, tatsächlich, das ist mir schon geraume Zeit klar, und wenn Sie heute nicht bei ihr gewesen wären, dann hätte ich mich höchstwahrscheinlich morgen selbst auf den Weg gemacht.«
Die Sonne war untergegangen, und über das Moor brach die Dämmerung herein. Die Luft war kühl
geworden, und wir zogen uns in die Hütte zurück, wo es wärmer war. Dort saßen wir im Dämmerlicht zusammen, und ich erzählte Holmes von meinem Gespräch mit der Dame. Er war so sehr daran
interessiert, daß ich Einzelheiten wiederholen mußte, bevor er zufrieden war.
»Das ist äußerst wichtig«, sagte er, als ich schließlich mit meinem Bericht fertig war. »Wir haben damit das Verbindungsstück, das ich in diesem komplizierten Fall bisher nicht hatte finden können. Es ist Ihnen doch wohl klar, daß eine sehr enge Beziehung zwichen der Dame und Stapleton besteht?«
»Von einer engeren Beziehung habe ich nichts gewußt.«
»Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Sie treffen sich, sie schreiben einander und scheinen sich völlig einig zu sein. Nun, das gibt uns eine starke Waffe in die Hand. Und wenn ich sie bloß dazu benutze, seine Frau auf unsere Seite zu ziehen...«
»Seine Frau?«
»Ja, Sie sollen jetzt ein paar Informationen von mir bekommen im Austausch für all das, was Sie mir zukommen lassen. Die Dame, die als Stapletons Schwester ausgegeben wird, ist in Wirklichkeit seine Frau.«
»Um Gottes willen! Holmes, wissen Sie, was Sie da sagen? Wie konnte er es dann geschehen lassen, daß sich Sir Henry in sie verliebte?«
»Daß sich Sir Henry in sie verliebt hat, konnte keinem außer Sir Henry selbst schaden. Und er hat sehr gut aufgepaßt, daß sich Sir Henry ihr nicht wirklich nähert, wie Sie ja selbst beobachtet haben. Ich wiederhole: Die Dame ist seine Frau und nicht seine Schwester.«
»Und warum diese arglistige Täuschung?«
»Weil er voraussah, daß sie ihm in der Rolle einer unverheirateten Frau viel nützlicher sein würde.«Alles, was ich gefühlsmäßig wahrgenommen hatte, meine vagen Mutmaßungen und Verdachtsgründe, nahmen
plötzlich Gestalt an und konzentrierten sich auf die Person des Naturforschers. In diesem teilnahmslosen, blassen Mann mit seinem Strohhut und dem Schmetterlingsnetz sah ich jetzt etwas Furchtbares — ein Wesen von unendlicher Geduld und Verschlagenheit, mit einem lächelnden Gesicht und einem
mörderischen Herzen.
»So ist er also unser Feind — und er ist es, der uns in London beschattet hat?«
»Das scheint mir des Rätsels Lösung.«
»Die Warnung kann dann nur von ihr gekommen sein!«
»Richtig.«
Aus dem Dunkel, das mich bisher umgeben hatte, nahm allmählich eine ungeheure Schurkerei Gestalt an.
Nur halb erkannte ich sie, halb mußte ich sie erraten.
»Aber sind Sie sich auch wirklich sicher, Holmes? Woher wissen Sie, daß die Dame seine Frau ist?«
»Weil er sich soweit vergessen hat, Ihnen ein Stück seiner wahren Biographie zu erzählen. Das war damals, als er Ihnen zum erstenmal begegnet ist. Wahrscheinlich hat er das schon oft genug bereut. Er war einmal Leiter einer Schule in Nordengland. Nun ist aber nichts leichter, als einen ehemaligen Schulleiter herauszufinden. Das gibt es Schulagenturen, die jeden, der einmal auf diesem Gebiet tätig war, in ihrer Kartei haben. Eine kleine Nachforschung ergab, daß in der genannten Gegend eine Schule geschlossen werden mußte, weil dort grauenhafte Zustände herrschten. Der Mann, dem sie gehört hat -
der Name war natürlich ein anderer — war mit seiner Frau verschwunden. Die Beschreibung paßte. Als ich dann noch herausfand, daß der gescheiterte Schulmann ein passionierter Entomologe war, gab es keinen Zweifel mehr.«
Das Dunkel begann sich zu lichten, aber vieles lag noch im Schatten verborgen.
»Wenn diese Dame in Wirklichkeit seine Ehefrau ist, wie kommt dann Mrs. Laura Lyons ins Spiel?«
fragte ich.
»Das ist ein Punkt, auf den Ihre eigenen Recherchen Licht geworfen haben. Ihr Gespräch mit der Dame hat sehr geholfen,
die Situation zu klären. Ich wußte nicht, daß sie die Scheidung von ihrem Mann anstrebt. Sie nahm natürlich an, daß Stapleton frei war, und so hat sie ohne Zweifel damit gerechnet, seine Frau zu werden.«
»Und wenn sie die Wahrheit erfährt?«
»Dann wird uns diese Dame zu Diensten sein! Wir werden sie
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