Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
klarer und deutlicher hervortreten als in dem Moment, da sie sich ereignen, weil Einzelheiten, die man zunächst übersehen hatte, erst durchs Erzählen den ihnen gebührenden Platz einnehmen. Weil die Wirklichkeit nie so ordentlich, bedeutsam und sinnvoll ist, wie sie in Geschichten erscheint.
Und weil die Wirklichkeit dieses Falles durchaus unbefriedigend geblieben ist – zumindest für mich. Vielleicht schreibe ich aber auch nur, um dem unerträglichen Schweigen Sherlock Holmes’ meine eigene Wirklichkeit entgegenzusetzen.
Alles begann, wie gesagt, als Lestrade am vergangenen Donnerstag in unsere Räume in Baker Street 221b hereinstürzte, um uns über das rätselhafte Verschwinden des ‚indischen Fakirs’ zu unterrichten. Oder vielleicht begann es schon eine Woche zuvor, bei der Ankunft dieses Mannes, der übrigens weder ein Fakir noch Inder war, in London.
Aber vielleicht fange ich doch besser mit Lestrades Auftauchen in der Baker Street an und damit, wie sein regennasser Überzieher dunkle Tropfflecken auf dem Teppich hinterließ. Warum störten mich diese dunklen Flecken so sehr, warum schien überhaupt alles an diesem Fall darauf angelegt, mich zu irritieren? Lestrade jedenfalls stand da wie ein begossener Pudel, nahm den Hut ab und – sehr zur Missbilligung von Mrs Hudson – wischte die glänzenden Regenspuren von der Krempe gedankenlos auf den Boden. Seine Augen wanderten unruhig und wie irre flackernd umher. „Holmes ...“, begann er.
„Was Sie verloren haben, werden Sie kaum hier in der Baker Street wiederfinden, Lestrade. Aber vielleicht kann ich bei der Wiederbeschaffung Hilfestellung leisten.“
„Sie müssen Gedanken lesen können, Holmes, ich habe es schon oft gesagt.“
„Und ich habe schon oft beobachtet, dass Menschen, denen etwas abhandengekommen ist, ständig ihre Blicke umherwandern lassen, gleichsam in jeden Winkel spähen in der irrigen Hoffnung, auch an den abgelegensten und unwahrscheinlichsten Orten doch noch unverhofft auf den vermissten Gegenstand zu stoßen.“
„Sie haben recht, Holmes.“ Ein feines Lächeln umspielte Lestrades Mundwinkel. „Allerdings bin ich nicht auf der Suche nach einem ‚etwas’, sondern nach ‚jemandem’, genauer gesagt ...“
„Sie meinen, der ‚indische Fakir’ ist aus seiner Zelle im Gefängnis von Reading entflohen?“
„Entflohen – nun ja, wie man’s nimmt. Aber, zum Teufel, woher konnten Sie wissen, dass es um Hunzicker geht? Sie können doch nicht wirklich Gedanken lesen, oder?“
„Aber Lestrade, das war doch sonnenklar. An der Krempe Ihres Hutes steckt noch der blau-rot gestreifte Fahrschein der Gesellschaft, deren Züge regelmäßig zwischen Reading und London verkehren.
Um 7 Uhr 30 trifft laut Fahrplan der erste Zug von Reading in Paddington ein. Rechnen wir die Zeit hinzu, die ein leidlich durchtrainierter Polizeibeamter mittleren Alters im Laufschritt braucht, um die Strecke vom Bahnhof bis hierher zu Fuß zurückzulegen – worauf Ihre äußerst verschmutzte Kleidung hinweist, denn ich nehme an, dass alle Droschken belegt waren –, etwa eine halbe Stunde, so kommen wir auf acht Uhr. Es ist jetzt genau 7 Uhr 58. Ich gratuliere, Lestrade, Sie haben einen neuen Rekord aufgestellt! Was aber kann einen Polizeibeamten dazu bewegen, am frühen Morgen den ersten verfügbaren Zug von Reading nach London zu nehmen und im Laufschritt hierher zu stürmen? Das einzig Interessante, das einzig Bedeutende, durch das sich Reading derzeit vor dem Rest der Welt auszeichnet, ist, dass im dortigen Gefängnis Alistair Hunzicker, besser bekannt als der ‚indische Fakir’, einsitzt – oder sollte ich sagen: einsaß?“
„Sie haben es mal wieder erfasst, Holmes. Der verfluchte Inder, pardon: Er ist ja eigentlich Engländer – ist wie vom Erdboden verschwunden.“
„Erzählen Sie mir mehr davon.“ In Sherlock Holmes’ Augen trat der mir wohl bekannte Ausdruck und während er den Ausführungen Lestrades lauschte, stopfte er gleichzeitig eine seiner Meerschaumpfeifen und begann dann, den Rauch in dicken Kringeln gegen die Decke zu blasen. Bis hierhin war alles so wie immer: Lestrade oder jemand anderer tauchte mit seinem Problem bei uns auf, Holmes stopfte seine Pfeife, lauschte – und hatte den Fall im Geiste schon halb gelöst, ließ aber mich und die anderen darin verwickelten Personen noch eine gute Weile im Dunkeln zappeln. Selbst dieser ungewöhnliche Fall war für uns in der Baker Street eigentlich das Normale, denn man
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