Sherlock Holmes - gesammelte Werke
stehe ich Ihnen ganz zu Diensten; ich darf wohl Ihre Geduld so lange in Anspruch nehmen.« – Er erhob sich mit sehr höflicher Miene, machte uns eine Verbeugung und verschwand durch eine Tür am anderen Ende des Zimmers, die er hinter sich schloss.
»Was nun?«, flüsterte Holmes. »Geht er auf und davon?«
»Unmöglich«, erwiderte Pycroft.
»Weshalb?«
»Die Tür führt in ein inneres Zimmer ohne Ausgang.«
»Ist es möbliert?«
»Gestern war es leer.«
»Was in aller Welt tut er dann drinnen? – Die Geschichte ist mir höchst rätselhaft. Wenn jemals ein Mensch halb wahnsinnig vor Entsetzen ausgesehen hat, so ist es dieser Pinner. Was kann ihm solche Angst einjagen?«
»Er hält uns für Geheimpolizisten«, meinte ich.
»Das wird’s sein«, stimmte mir Pycroft bei; aber Holmes schüttelte den Kopf.
»Er wurde nicht erst so leichenblass, als wir eintraten, er war es schon vorher. Es könnte wohl sein ...«
Holmes’ Worte wurden durch ein lautes Klopfen unterbrochen, das aus dem Nebenzimmer zu kommen schien.
»Was zum Henker pocht er denn an seine eigene Tür?«, rief Pycroft.
Wieder kam das rat-tat-tat, aber diesmal lauter und lauter.
Wir blickten verdutzt auf die geschlossene Tür. Holmes stand mit starren Zügen, aber in heftigster Aufregung weit vorgebeugt da. Dann hörte man plötzlich einen glucksenden, gurgelnden Ton und ein schnelles Trommeln gegen eine Holzwand. Wie rasend sprang Holmes durchs Zimmer und rannte gegen die Tür. Sie war von innen verschlossen. Seinem Beispiel folgend, warfen wir uns mit aller Macht dagegen. Die Tür krachte in den Angeln und fiel bald mit lautem Gepolter zu Boden. Wir stürmten darüber hinweg, ins Zimmer hinein – es war leer.
Doch schon im nächsten Augenblick erkannten wir unseren Irrtum. In einem Winkel, dicht neben dem Zimmer, aus dem wir kamen, war eine zweite Tür. Holmes sprang herzu und stieß sie auf. Ein Rock und eine Weste lagen am Boden, und an einem Haken hinter der Tür hatte sich der Direktor der Anglo-Französischen Aktiengesellschaft an seinem eigenen Hosenträger aufgehängt. Seine Knie waren emporgezogen, sein Kopf steckte in der Schlinge, und mit den Fersen, die gegen die Holztür schlugen, verursachte er den Lärm, der uns zuerst stutzig gemacht hatte.
Augenblicklich fasste ich ihn um den Leib und hielt ihn empor, während Holmes und Pycroft die elastischen Tragbänder lösten, die sich ihm fest in die Haut eingeschnürt hatten. Dann trugen wir ihn in das Nebenzimmer, wo er aschgrau im Gesicht, mit blauroten Lippen keuchend dalag – nur noch ein elendes Wrack des Menschen, der er vor fünf Minuten gewesen war.
»Wie steht’s mit ihm – was meinen Sie, Watson?«, fragte Holmes.
Ich beugte mich über ihn, um seinen Zustand zu untersuchen. Der Puls war schwach und setzte aus, aber die Atemzüge wurden länger, und bei dem leisen Beben der Lider zeigte sich dann und wann der Augapfel.
»Um ein Haar war es aus mit ihm«, sagte ich, »aber jetzt kommt er durch. Bitte öffnen Sie das Fenster und reichen Sie mir die Wasserflasche.«
Ich lockerte seinen Kragen, goss ihm kaltes Wasser übers Gesicht und hob und senkte seine Arme, bis er einen langen, natürlichen Atemzug tat. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, wie bald er wieder zum Bewusstsein kommen würde.
Holmes stand am Tisch, mit den Händen in den Taschen und das Kinn auf die Brust gesenkt. »Jetzt sollten wir eigentlich nach der Polizei schicken«, sagte er, »aber ich gestehe, dass ich ihr, wenn sie kommt, gern den fertigen Fall vorlegen möchte.«
»Ich werde ganz und gar nicht klug daraus«, rief Pycroft und fuhr sich durch das Haar. »Weshalb in aller Welt hat man mich hierhergesprengt, wenn man doch ...«
»Pah!«, unterbrach ihn Holmes ungeduldig. »Das ist alles sonnenklar; nur dieser letzte Schachzug ...«
»Sie verstehen also das Übrige?«
»Nun, das liegt doch auf der Hand – nicht wahr, Watson?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich muss bekennen, dass ich noch im Dunkeln bin.«
»Aber wenn man die ganze Sache von Anfang an überlegt, lässt sich doch nur
ein
Schluss daraus ziehen.«
»Wie erklären Sie sie sich denn?«
»Alles dreht sich um zwei Punkte. Erstens sollte Pycroft dazu gebracht werden, seinen Eintritt in den Dienst der angeblichen Aktiengesellschaft schriftlich zu erklären. – Ist das nicht schon ein deutlicher Wink?«
»Was meinst du denn, wozu sie die Erklärung brauchten?«
»Nicht des Geschäfts wegen, denn solche Verabredungen werden
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