Sherlock Holmes - gesammelte Werke
lehnte sich in die Kissen zurück und sah mich mit wohlgefälligem und doch prüfendem Blick an, wie ein Kenner, der den ersten Becher eines Kometenjahrgangs kostet.
»Prächtig, Watson, nicht wahr?«, rief er. »Einige Punkte gefallen mir ganz besonders. Meinen sie nicht auch, dass eine Zusammenkunft mit Mr Arthur Harry Pinner in dem Büro der Anglo-Französischen Aktiengesellschaft für uns beide recht interessant sein würde?«
»Aber wie ließe sich das ausführen?«, fragte ich.
»Oh, ganz bequem«, versicherte Pycroft vergnügt. »Sie sind ein paar Freunde von mir, die eine Stellung suchen, und was kann natürlicher sein, als dass ich Sie dem Direktor vorstelle?«
»Jawohl! Selbstverständlich!«, rief Holmes. »Ich möchte den Herrn wohl von Angesicht sehen und versuchen, ob ich ihm nicht bei seinem Spiel in die Karten gucken kann. Nun, mein Freund, zu was für Diensten könnten wir uns denn etwa anbieten – oder wäre es möglich ...?« Damit versank er in tiefes Nachdenken, kaute an seinen Nägeln und starrte aus dem Fenster. Wir bekamen kaum noch den Laut seiner Stimme zu hören, bevor wir Birmingham und das Hotel erreicht hatten.
Um sieben Uhr abends gingen wir alle drei zusammen in die Corporation Street zum Büro der Gesellschaft.
»Es ist ganz unnütz«, bemerkte unser Klient, »wenn wir vor der Zeit dort sind. Er kommt offenbar nur meinetwegen hin, denn bis zu der von ihm bestimmten Stunde ist der Ort völlig verlassen.«
»Das gibt zu denken«, meinte Holmes.
»Meiner Treu«, rief jetzt Pycroft, »sagte ich’s nicht – da geht er vor uns!«
Er zeigte auf einen schmächtigen, wohlgekleideten Mann mit hellbraunem Haar, der eilig auf der anderen Seite der Straße hinschritt. Während wir ihn beobachteten, sah er nach einem Jungen hinüber, der gerade die neueste Abendzeitung ausrief. Rasch drängte er sich zwischen den Droschken und Omnibussen hindurch, kaufte ein Blatt, ergriff es hastig und verschwand damit in einem Torweg.
»Jetzt geht er ins Büro«, sagte der Schreiber, »das ist der Eingang. Kommen Sie nur, ich will schon dafür sorgen, dass Sie keinerlei Schwierigkeiten haben.«
Seiner Führung folgend, stiegen wir bis zum fünften Stock hinauf, wo unser Klient an eine halb offenstehende Tür klopfte. Eine Stimme rief: »Herein!«, und wir betraten das kahle, unmöblierte Zimmer, welches wir aus Pycrofts Beschreibung kannten.
An dem einzigen Tisch saß der Mann, den wir auf der Straße gesehen hatten; die Abendzeitung lag vor ihm ausgebreitet. Als er den Kopf erhob, glaubte ich noch nie ein Gesicht gesehen zu haben, das solchen Kummer ausdrückte und ein Entsetzen verriet, wie es nur wenige Menschen einmal im Leben befällt. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, sein Gesicht war kreideweiß, und die Augen starrten wild umher. Er schien den Schreiber nicht gleich zu erkennen, und auch an Pycrofts verwunderter Miene merkte man leicht, dass dies keineswegs das gewöhnliche Aussehen seines Vorgesetzten war.
»Was fehlt Ihnen, Mr Pinner?«, rief er.
»Ich fühle mich allerdings nicht ganz wohl«, erwiderte dieser, sich mit großer Anstrengung zusammenraffend. »Wer sind denn die Fremden, die Sie mitbringen?«
»Mr Harris aus Bermondsey und Mr Price von hier«, stellte uns Pycroft mit geläufiger Zunge vor, »zwei meiner Freunde, sehr gewiegt im Geschäft, aber seit langer Zeit ohne Anstellung. Vielleicht ließe sich bei der Gesellschaft ein Platz für sie finden.«
»Wohl möglich, wohl möglich ...«, rief Pinner mit unheimlichem Lächeln. »Kein Zweifel, wir werden etwas für Sie tun können. Was ist denn Ihr besonderes Fach, Mr Harris?«
»Ich bin Buchhalter«, antwortete Holmes.
»Gut – wir werden Ihre Dienste brauchen. Und Sie, Mr Price?«
»Korrespondent«, sagte ich.
»Ich hoffe bestimmt, dass Sie bei der Gesellschaft eintreten können. Sobald ein Beschluss darüber gefasst ist, will ich Sie benachrichtigen. Aber bitte, nun gehen Sie wieder. – Lassen Sie mich um Gottes willen allein!«
Er stieß die letzten Worte heraus, als ob der Zwang, den er sich bisher angetan, plötzlich über seine Kräfte ginge. Holmes und ich sahen einander befremdet an, während Pycroft sich dem Tisch näherte.
»Sie vergessen, Mr Pinner«, sagte er, »dass Sie mich herbestellt haben, um Ihre Aufträge in Empfang zu nehmen.«
»Ja, so, versteht sich«, antwortete er in ruhigerem Ton. »Warten Sie bitte einen Augenblick. Auch Ihre Freunde mögen unterdessen hierbleiben. In drei Minuten
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