Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Offenbar bildete das Ereignis augenblicklich das Hauptinteresse in der ganzen Stadt. Der Bericht lautete wie folgt:
»Ein verwegener Raubversuch, der den Tod eines Menschen zur Folge hatte und mit der Ergreifung des Mörders endete, ist heute Nachmittag in der City unternommen worden. Seit längerer Zeit hat das bekannte Geschäftshaus von Mawson & Williams Wertpapiere in Verwahrung gehabt, deren Gesamtbetrag eine Million Pfund weit überstieg. Zur Sicherung dieses Schatzes waren umfangreiche Vorsichtsmaßregeln getroffen worden. Er befand sich in einem Geldschrank allerneuester Erfindung, und ein bewaffneter Wächter war Tag und Nacht im Dienst. In der vergangenen Woche nun wurde von der Firma ein neuer Schreiber namens Hall Pycroft angestellt, der aber niemand anders zu sein scheint als der berüchtigte Fälscher und Einbrecher Beddington, der samt seinem Bruder soeben erst eine fünfjährige Zuchthausstrafe abgebüßt hat. Es war ihm gelungen, sich auf bisher unaufgeklärte Weise unter falschem Namen die Stelle zu verschaffen, und er benutzte dies, um Abdrücke von verschiedenen Schlössern zu nehmen und sich über die Lage des Kassenzimmers und über die Geldschränke aufs Genaueste zu unterrichten.
Bei Mawson pflegen die Gehilfen und Beamten am Sonnabend das Geschäft schon um zwölf Uhr mittags zu verlassen. Als daher der Stadtpolizist Tuson zwanzig Minuten nach ein Uhr einen Herrn mit einer Reisetasche die Stufen herabkommen sah, wunderte ihn das sehr. Sein Verdacht war erregt, er folgte dem Menschen, und es gelang ihm mithilfe des Schutzmanns Pollack, den Kerl nach verzweifeltem Widerstand festzunehmen. Es zeigte sich sogleich, dass ein großartiger, äußerst frecher Raub begangen worden war. Der Reisesack enthielt amerikanische Eisenbahnaktien, deren Wert sich etwa auf einhunderttausend Pfund belief, nebst Bergwerksobligationen und Pfandbriefen von sehr hohem Betrag.
Bei der Haussuchung fand man den Leichnam des ermordeten Wächters in den größten Kassenschrank hineingezwängt, wo er ohne das tätige Eingreifen des Polizisten Tuson nicht vor Montag früh entdeckt worden wäre. Der Schädel war dem Unglücklichen mit einem Feuerhaken von hinten her eingeschlagen worden. Ohne Zweifel hatte sich Beddington, unter dem Vorwand, etwas vergessen zu haben, Eintritt verschafft, hatte den Wächter getötet, schnell den großen Kassenschrank geleert und sich mit der Beute davongemacht. Sein Bruder, der sonst immer mit ihm zu arbeiten pflegt, scheint bei diesem Unternehmen nicht beteiligt zu sein, soviel man bis jetzt weiß; doch ist die Polizei eifrig beschäftigt, nach seinem Aufenthaltsort zu forschen.«
»Da können wir der Polizei einige Mühe ersparen«, sagte Holmes mit einem Blick auf die jämmerlich zusammengekrümmte Gestalt, die im Winkel kauerte. »Die menschliche Natur ist doch ein recht wunderliches Gemisch, Watson! Selbst ein Schurke und ein Mörder kann das größte Mitleid einflößen. Auf die erste Kunde hin, dass er dem Strick verfallen ist, hat sein Bruder hier Selbstmord versucht. – Uns bleibt übrigens keine Wahl; wir wissen, was wir zu tun haben. Der Doktor und ich werden hier Wache halten, und Sie, Pycroft, holen unterdessen gefälligst die Polizei.«
H OLMES ’ ERSTES A BENTEUER
»Hier, Watson, habe ich Papiere«, sagte mein Freund Sherlock Holmes, als wir uns an einem Winterabend vorm Kaminfeuer gegenübersaßen, »deren Durchsicht sich sicher für Sie lohnen wird. Es sind Akten aus dem ungewöhnlichen Fall der ›Gloria Scott‹, und hier ist das Schriftstück, das dem Friedensrichter ein tödliches Entsetzen einjagte.«
Damit zog er aus einer Schublade eine kleine vergilbte Rolle, löste die Umschnürung und hielt mir ein halbes Blatt schiefergrauen Papiers hin, auf das ein paar Zeilen gekritzelt waren.
»Die Zeit der Jagd auf Hasen geht bald los«, lauteten die Worte. »An Wechseln, Förster Hudson sagte mir’s, hat gestern schon alles voll Wild gestanden. Er meinte, fort sei Reineke von Haus, und hier und da eile ein Iltis.«
Als ich diese rätselhaften Worte gelesen hatte und wieder aufschaute, sah ich, wie Holmes ein Lächeln über den Ausdruck meines Gesichts unterdrückte.
»Sie machen ein recht erstauntes Gesicht«, sagte er.
»Ich kann nicht einsehen, wie eine solche Botschaft Entsetzen einzuflößen vermochte. Sie kommt mir eher lächerlich als sonst etwas vor.«
»Allem Anschein nach. Dennoch steht die Tatsache fest, dass der Leser, ein schöner, kräftiger Mann
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