Sherlock Holmes - gesammelte Werke
überreichliche Muße zum Studium von mancherlei Wissenschaften, die in mein Fach schlugen. Dann und wann wurden nur, hauptsächlich durch Vermittlung früherer Universitätsfreunde, allerlei Probleme vorgelegt; denn während meiner letzten Studienjahre war unter den Studenten viel von mir und meiner Methode die Rede gewesen. Von diesen ersten Fällen hat keiner ein so allgemeines Interesse erregt und ist mir dadurch auch für mein späteres Fortkommen so nützlich gewesen wie die Geschichte vom Katechismus der Familie Musgrave mit ihrer sonderbaren Verkettung der Umstände, die zu einem höchst denkwürdigen Ergebnis führten.
Reginald Musgrave war zugleich mit mir auf der Universität gewesen, doch wurden wir damals nur flüchtig bekannt. Er galt als hochmütig bei den jüngeren Studenten, vielleicht mit Unrecht, denn mir schien, dass er die stolze Miene nur zur Schau trug, um seinen großen Mangel an Selbstvertrauen zu verbergen. Sein Äußeres machte einen hochadligen Eindruck; der schmale Nasenrücken, die großen Augen, die schlanke Gestalt mit den schlaffen Bewegungen und den höfischen Manieren, alles verriet den geborenen Aristokraten. Er war auch wirklich der Abkömmling einer der ältesten Familien des Königreichs, das heißt, er stammte aus der jüngeren Linie, die sich im 16. Jahrhundert von den im Norden ansässigen Musgraves getrennt und im westlichen Sussex niedergelassen hatte, wo ihr Schloss in Hurlstone vielleicht das älteste noch bewohnte Gebäude der ganzen Grafschaft ist. Wenn ich die stolze Haltung des Mannes und sein bleiches, scharfgeschnittenes Gesicht betrachtete, musste ich unwillkürlich an graue Torgewölbe, steinerne Bogenfenster und den ganzen ehrwürdigen Bau einer mittelalterlichen Burg denken. Hier und da unterhielten wir uns miteinander, und ich erinnere mich, dass er mehrmals ein großes Interesse für meine Beobachtungen und Schlussfolgerungen äußerte.
Seit vier Jahren hatte ich nichts von ihm gesehen, als er eines Tages in der Montague Street bei mir eintrat. Er war wenig verändert, ging sehr modisch gekleidet – er legte von jeher großen Wert auf seinen Anzug –, und sein Wesen war noch ebenso gemessen und verbindlich wie damals.
›Wie ist es Ihnen die Zeit über ergangen, Musgrave?‹, fragte ich, nachdem wir uns freundlich die Hand geschüttelt.
›Sie werden wohl gehört haben, dass mein Vater vor zwei Jahren gestorben ist‹, versetzte er. ›Seitdem musste ich natürlich das Gut in Hurlstone verwalten, und da ich zugleich Abgeordneter des Bezirks bin, führe ich ein vielbeschäftigtes Leben. – Ist es wahr, was man mir sagt, Holmes, dass Sie Ihr Talent, mit dem Sie uns so oft in Erstaunen gesetzt haben, nunmehr zu praktischen Zwecken verwerten?‹
›Jawohl, ich will mir dadurch meinen Lebensunterhalt erwerben.‹
›Das freut mich außerordentlich, denn Ihr Rat wäre mir jetzt von ungeheuerem Wert. Bei uns in Hurlstone sind wunderliche Dinge geschehen, und die Polizei ist außerstande, Licht in das Dunkel zu bringen. Es ist wirklich ein höchst seltsames und unerklärliches Vorkommnis.‹
Sie können sich denken, Watson, mit welcher Begierde ich seinen Worten lauschte; endlich schien sich mir die günstige Gelegenheit bieten zu wollen, nach der ich während all der langen untätigen Monate geschmachtet hatte. Was anderen missglückte, würde mir gelingen, davon war ich fest überzeugt; es galt nur noch eine Probe meiner Befähigung abzulegen.
›Bitte, Musgrave, erzählen Sie mir alles Nähere‹, rief ich.
Er nahm mir gegenüber Platz und zündete sich eine Zigarette an, die ich ihm hingeschoben hatte.
›Vor allem muss ich Ihnen sagen‹, begann er, ›dass ich zwar unverheiratet bin, aber doch in Hurlstone eine zahlreiche Dienerschaft habe, denn das Schloss ist ein weitläufiger alter Bau und schwer in Ordnung zu halten. Auch ein Wildpark gehört dazu, und um die Zeit der Fasanenjagd sind alljährlich viele Gäste im Haus, sodass für genügende Bedienung gesorgt sein muss. Alles in allem halte ich acht Dienstmädchen, den Koch, den Hausmeister, zwei Diener und einen Laufburschen. Für den Garten und die Ställe sind natürlich noch besondere Leute da.
Von allen Dienern hatten wir Brunton, den Hausmeister, am längsten bei uns. Als er zuerst bei meinem Vater eintrat, war er eigentlich Schullehrer, aber ohne Stelle; durch große Umsicht und Tatkraft machte er sich bald in der Haushaltung vollständig unentbehrlich. Er ist ein schöner Mann von hohem
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