Sherlock Holmes - gesammelte Werke
und was aus ihm geworden sei.
Wir durchsuchten das ganze Haus und alle Nebengebäude, ohne eine Spur von ihm zu entdecken. Es ist, wie gesagt, ein förmliches Labyrinth, besonders der älteste Flügel, der jetzt fast unbewohnt daliegt; überall forschten wir nach dem Verschwundenen, aber ohne jeden Erfolg. Dass er unter Zurücklassen seines Eigentums fortgegangen sein sollte, schien mir unglaublich – und doch, wo konnte er sein? Ich wandte mich an die Ortspolizei, auch ihre Bemühung war vergeblich. Es hatte die Nacht zuvor geregnet; wir besichtigten den Rasenplatz und alle Gänge und Wege, es fanden sich aber keine Fußspuren. So standen die Dinge, als ein neues Ereignis unsere Gedanken von dem ursprünglichen Rätsel ablenkte.
Zwei Tage lang war Rahel Howells sehr krank gewesen; bald raste sie in Fieberfantasien, bald verfiel sie in einen hysterischen Zustand, sodass eine Pflegerin nachts bei ihr wachen musste. In der dritten Nacht wurde die Kranke ruhiger, und sobald die Wärterin sah, dass sie sanft schlief, nickte auch sie im Lehnstuhl ein. Als sie früh am Morgen erwachte, stand das Fenster offen, das Bett war leer und von der Kranken nirgends eine Spur. Man weckte mich sofort, und ich machte mich mit zwei Dienern auf, um nach dem Mädchen zu suchen. Die von ihr eingeschlagene Richtung war leicht zu finden, wir konnten ihre Fußtritte vom Fenster aus über den Rasen bis an den Rand des Weihers verfolgen, wo sie plötzlich dicht neben dem Kiespfad aufhörten, der aus den Anlagen führt. Der See ist an dieser Stelle über acht Fuß tief, und Sie können sich unseren Schrecken denken, als wir sahen, dass sich die Spur der armen Geisteskranken dort am Ufer verlor. Natürlich ließ ich den See gleich ausfischen, aber der Leichnam fand sich nicht. Stattdessen wurde ein höchst seltsamer Gegenstand an die Oberfläche befördert. Es war ein Leinwandsack, der einen formlosen, verbogenen Gegenstand aus verrostetem und schwarz angelaufenem Metall enthielt, nebst mehreren Kieseln oder Glasstücken von matter Farbe. Außer diesem merkwürdigen Fund hat man aus dem Weiher nichts herausgezogen. Obwohl wir nun aber seit gestern alle möglichen Erkundigungen und Nachforschungen angestellt haben, sind wir über das Schicksal von Rahel Howells und Richard Brunton vollständig im Dunkeln geblieben. Die Polizei der Grafschaft ist mit ihrem Latein zu Ende, und als letzte Hilfe habe ich Sie aufgesucht.‹
Sie können sich vorstellen, Watson, wie begierig ich auf diesen seltsamen Bericht lauschte und wie eifrig ich bemüht war, die einzelnen Teile zusammenzufügen und nach einem Faden zu suchen, der sie untereinander verbände.
Der Hausmeister war fort, das Mädchen nicht zu finden. Rahel hatte Brunton geliebt und dann Grund gehabt, ihn zu hassen. Sie war feurig und leidenschaftlich und befand sich unmittelbar nach seinem Verschwinden in der schrecklichsten Aufregung. Der Sack mit dem sonderbaren Inhalt war von ihr in den See geworfen worden. – Alle diese Einzelheiten mussten wohl in Betracht gezogen werden, aber durch keine derselben kam man der Sache auf den Grund. Von welchem Punkt war die Verwicklung ausgegangen? Wo steckte das Ende des verwirrten Knäuels? –
›Ich muss jenes Papier sehen, Musgrave‹, sagte ich, ›das Ihr Hausmeister, selbst auf die Gefahr hin, seine Stellung zu verlieren, sich verschafft hat.‹
›Dieser sogenannte Katechismus unserer Familie ist ein höchst abgeschmacktes Schriftstück‹, erwiderte er, ›das keinen anderen Wert hat als sein hohes Alter. Ich habe eine Abschrift bei mir, wenn Sie einmal einen Blick darauf werfen wollen.‹
Er händigte mir dies Blatt ein, das Sie hier vor sich sehen, Watson; die sonderbaren Fragen und Antworten, die jeder Musgrave hersagen musste, sobald er volljährig war, lauteten:
Wem gehörte sie?
Dem, der nicht mehr ist.
Wer soll sie haben?
Der, welcher kommt.
Welcher Monat war es?
Der sechste vom ersten.
Wo war die Sonne?
Über der Eiche.
Wo war der Schatten?
Unter der Ulme.
Wie maß man ihn aus?
Nach Norden zehn und zehn, nach Osten fünf und fünf, nach Süden zwei und zwei, nach Westen eins und eins und darunter.
Was sollen wir dafür geben?
All unser Gut.
Weshalb geben wir es hin?
Weil uns das Pfand vertraut ward.‹
›Das Original trägt kein Datum, aber der Schreibweise nach muss es aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts stammen‹, bemerkte Musgrave. ›Ich fürchte jedoch, es wird Ihnen zur Lösung jenes Rätsels kaum
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