Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Lupe.
»Interessant, wenngleich sehr einfach«, sagt er, als er sich wieder in seine Lieblingssofaecke setzte. »Sicherlich gibt der Stock ein oder zwei Andeutungen. Er liefert uns den Ausgangspunkt für mehrere Schlussfolgerungen.«
»Ist mir irgendetwas entgangen?«, fragte ich, ein wenig mich in die Brust werfend. »Ich denke doch, ich habe nichts von Bedeutung übersehen?«
»Ich fürchte, mein lieber Watson, Ihre Folgerungen waren größtenteils falsch. Wenn ich sagte, Sie regen mich an, meinte ich damit – um offen zu sein –, dass ich durch Ihre Trugschlüsse gelegentlich auf die Wahrheit gebracht wurde. Indessen sind Sie in diesem Fall doch nicht gänzlich auf dem Holzweg. Der Mann ist ganz gewiss ein Landarzt. Und er geht viel zu Fuß.«
»Also hatte ich recht!«
»Insoweit, ja.«
»Aber das war doch alles!«
»Nein, nein, mein lieber Watson, nicht alles – durchaus nicht alles. Ich möchte zum Beispiel annehmen, dass ein Doktor ein Geschenk wohl eher von einem Hospital als von einem Hetzjagdverein erhält, und dass, wenn vor dem H. des ›Hospital‹ die Anfangsbuchstaben ›C. C.‹ stehen, sich ganz ungezwungen die Auslegung ›Charing-Cross‹ darbietet.«
»Sie könnten recht haben.«
»Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür. Und wenn wir davon ausgehen wollen, haben wir eine frische Grundlage, worauf wir eine Vorstellung von unserem unbekannten Besucher uns aufbauen können.«
»Nun, also angenommen, ›C. C. H.‹ bedeute ›Charing-Cross-Hospital‹, was können wir für weitere Schlüsse aus diesem Umstand ziehen?«
»Können Sie nicht selber darauf kommen? Sie kennen meine Methoden. Wenden Sie sie an!«
»Mir fällt bloß die sehr einfache Schlussfolgerung ein, dass der Mann in der Stadt praktiziert hat, bevor er aufs Land zog.«
»Ich denke, wir dürfen uns in unseren Schlüssen ruhig ein bisschen weiter wagen. Betrachten Sie mal den Fall vom folgenden Standpunkt aus: Bei was für einer Gelegenheit wird ein solches Geschenk höchstwahrscheinlich gemacht worden sein? Wann werden seine Freunde zusammengetreten sein, um ihm diese Gabe zu stiften? Offenbar in dem Augenblick, als Dr. Mortimer das Hospital verließ, um sich eine eigene Praxis zu gründen. Wir wissen, ein Geschenk ist gemacht worden. Wir glauben, der Mann ist vom Hospital aufs Land gezogen. Gehen wir denn also in unseren Mutmaßungen zu weit, wenn wir sagen, das Geschenk wurde ihm gelegentlich seines Fortganges dargebracht?«
»Das klingt allerdings wahrscheinlich.«
»Nun wird es Ihnen klar sein, dass er nicht dem ärztlichen ›Stab‹ des Krankenhauses angehört haben kann, denn eine derartige Stellung bekommt nur ein Arzt, der bereits eine gute Londoner Praxis hat, und ein solcher würde nicht aufs Land ziehen. Wer war er also? Wenn er zum Hospital und doch nicht zum Stab desselben gehörte, kann er nur Assistent gewesen sein – wenig mehr als ein älterer Kandidat der Medizin. Sein Fortgang fand vor fünf Jahren statt – das Datum steht auf dem Stock. So geht also Ihr ernster Familiendoktor reiferen Alters in Luft auf, mein lieber Watson, und heraus kommt ein junger Bursche unter dreißig Jahren, liebenswürdig, ohne Ehrgeiz, zerstreut – und Besitzer eines von ihm sehr geliebten Hundes, von welchem ich so ganz im Allgemeinen nur sagen möchte, dass er größer als ein Dackel und kleiner als eine Dogge ist.«
Ich lachte ungläubig, während Sherlock Holmes sich auf seinem Sofa zurücklehnte und kleine Rauchringe in die Luft blies.
»Gegen Ihre letzte Versicherung vermag ich nichts einzuwenden«, sagte ich, »aber zum mindesten ist es nicht schwierig, ein paar Angaben über des Mannes Alter und bisherige Berufstätigkeit zu erlangen.« Ich nahm von dem Bücherbrettchen, worauf meine medizinischen Werke standen, den Medizinalkalender herunter und schlug den Namen auf. Es waren mehrere Mortimers aufgeführt, aber was wir von unserem Besucher bereits wussten, passte nur auf einen Einzigen von diesen. Ich las die betreffende Stelle vor:
»Mortimer, James, M. R. C. S., 1882, Grimpen, Dartmoor, Devonshire. Von 1882 bis 1884 Assistent am Charing-Cross-Hospital. Erhielt den ›Jackson-Preis für vergleichende Pathologie‹ für seine Abhandlung: ›Ist Krankheit ein Atavismus?‹ Korrespondierendes Mitglied der Schwedischen pathologischen Gesellschaft. Verfasste: ›Einfälle über Atavismus‹ (Lancet, 1882), ›Machen wir Fortschritte?‹ (Journal of Psychology, März 1883). Gemeindearzt für Grimpen, Torsley und
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