Sherlock Holmes - gesammelte Werke
durchschossenen Borgis eines Leitartikels der ›Times‹ und der unsauberen Schrift eines Halfpenny-Abendblattes ebenso viel Unterschied wie für Sie zwischen einem Neger- und einem Eskimoschädel. Die Unterscheidung der verschiedenen Drucktypen gehört zu den Anfangsgründen für einen wissenschaftlich denkenden Sachverständigen; ich muss jedoch zugeben, dass ich in meiner ganz frühen Jugend einmal den ›Leeds Mercury‹ mit den ›Western Morning News‹ verwechselt habe. Aber ein ›Times‹-Leitartikel ist gar nicht zu verkennen; diese Wörter konnten keiner anderen Zeitung entnommen sein. Da der Brief gestern angefertigt war, sprach eine starke Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir die Wörter in der gestrigen Nummer finden würden.«
»So weit ich Ihnen folgen kann, Mr Holmes«, bemerkte Sir Henry Baskerville, »hat jemand diese Wörter mit einer Schere ...«
»Mit einer Nagelschere ausgeschnitten, ja. Wie Sie sehen können, war es eine Schere mit sehr kurzer Klinge, denn es war für die Wörter: ›so bleiben‹ ein zweimaliges Zuschneiden nötig.«
»Richtig. Es schnitt also jemand den Text des Briefes mit einer kurzklingigen Schere aus, klebte ihn mit Kleister ...«
»Mit Gummi!«, sagte Holmes.
»Mit Gummi auf das Papier. Aber ich möchte wissen, warum dann das Wort ›Moor‹ geschrieben ist?«
»Weil er das Wort nicht gedruckt finden konnte. Die anderen Wörter sind alle einfach und würden sich in jeder Zeitungsnummer finden lassen, aber das Wort ›Moor‹ ist weniger gewöhnlich.«
»Das ist allerdings eine gute Erklärung. Haben Sie sonst etwas aus dem Brief herausgelesen, Mr Holmes?«
»Es sind ein paar Andeutungen darin, obgleich der Absender sich die allergrößte Mühe gegeben hat, alle verräterischen Spuren zu verwischen. Die Adresse ist, wie Sie sehen, mit unbeholfen geformten Buchstaben geschrieben. Aber die ›Times‹ ist ein Blatt, das man kaum je in anderen Händen als in denen sehr gebildeter Leute findet. Wir können daher annehmen, dass der Brief von einem gebildeten Mann verfertigt wurde, der den Anschein erwecken wollte, als gehöre der Absender den ungebildeten Klassen an, und dieses Bemühen, die Handschrift zu verstellen, legt den Schluss nahe, der Schreiber sei Ihnen bekannt oder könnte von Ihnen erkannt werden. Ferner werden Sie bemerken, dass die Wörter nicht in einer geraden Linie aneinander geklebt sind, sondern dass einige von ihnen viel höher stehen als andere. ›Leben oder‹ zum Beispiel steht ganz außerhalb der Reihe. Das kann entweder auf Unachtsamkeit des Ausschneidenden hindeuten, oder es mag davon gekommen sein, dass dieser aufgeregt und in Eile war. Im Großen und Ganzen neige ich mich der letzteren Annahme zu, denn die Anfertigung eines solchen Briefes war offenbar eine wichtige Sache, und es ist unwahrscheinlich, dass der Verfertiger dabei unachtsam gewesen sein soll. War er aber in Eile, leitet dieser Umstand zu der interessanten Frage, warum er in Eile war; denn jeder Brief, der bis zu den frühen Morgenstunden auf die Post gegeben wurde, musste in Sir Henrys Hände kommen, bevor er das Hotel verließ. Fürchtete der Verfertiger eine Unterbrechung – und von wem?«
»Wir kommen jetzt ziemlich weit in das Gebiet der Mutmaßungen hinein!«, sagte Dr. Mortimer.
»Sagen Sie lieber: in das Gebiet, wo wir die verschiedenen Möglichkeiten gegen einander abwägen und uns für die wahrscheinlichste entscheiden. Wir machen eine wissenschaftliche Anwendung von unserer Einbildungskraft; indessen haben wir in diesem Fall immerhin eine tatsächliche Grundlage für unsere Spekulationen. Sie werden freilich ohne Zweifel denken, ich verlege mich aufs Raten, aber ich bin fast ganz sicher, dass diese Adresse in einem Hotel geschrieben worden ist.«
»Wie in aller Welt können Sie das sagen?«
»Wenn Sie den Umschlag sorgfältig prüfen, werden Sie bemerken, dass dem Schreiber die Tinte sowohl wie die Feder Schwierigkeiten gemacht haben. Die Feder hat zweimal in einem einzigen Wort gespritzt, und die Tinte ist beim Schreiben der kurzen Adresse nicht weniger als dreimal ausgegangen, ein Beweis, dass sehr wenig im Tintenfass gewesen sein muss. In einem Privathaus lässt man es selten dahin kommen, dass Feder oder Tintengeschirr sich in solchem Zustand befindet, und dass gar beide zusammen so vorgefunden werden, kommt gewiss kaum jemals vor. Dagegen kennen Sie wohl die Tinte und Federn, die man in Gasthöfen findet; diese sind fast immer abscheulich. Ja, ich sage
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