Sherlock Holmes - Im Zeichen der Vier
Kommen Sie nicht mit der Polizei, sonst ist alles umsonst. Ihr unbekannter Freund.< Nun, das ist ja wirklich ein sehr hübsches, kleines Rätsel! Was haben Sie vor zu tun, Miß Morstan?«
»Genau das ist es, was ich Sie fragen wollte.«
»Dann werden wir ganz gewiß hingehen - Sie und ich und -jawohl, natürlich Dr. Watson, der ist genau der richtige Mann. Ihr Korrespondent schreibt: zwei Freunde. Er und ich haben bereits früher
zusammengearbeitet.«
»Aber würde er mitkommen?« fragte sie mit ängstlicher Stimme und sah mich flehend an.
»Ich bin stolz und glücklich«, rief ich begeistert aus, »wenn ich Ihnen zu Diensten sein kann.«
»Sie sind beide sehr freundlich«, antwortete sie. »Ich habe ein zurückgezogenes Leben geführt und habe keine Freunde, die ich bitten könnte. Genügt das wohl, wenn ich um sechs hier bin?«
»Aber bitte nicht später«, sagte Holmes. »Da ist jedoch noch ein anderer Punkt. Ist diese Handschrift die gleiche wie die auf den Adressen der Perl-Päckchen?«
»Ich habe sie hier«, antwortete sie und holte ein halbes Dutzend Adressen hervor.
»Sie sind ja das Muster eines Klienten. Sie haben die richtige Intuition. Nun, lassen Sie mal sehen.« Er breitete die Papieradressen auf dem Tisch aus und sah sie kurz der Reihe nach durch. »Die Handschrift ist verstellt, mit Ausnahme des Briefes«, sagte er dann, »aber die Urheberschaft ist ohne Frage eindeutig.
Sehen Sie, wie das griechische >e< sich nicht unterdrücken läßt und immer wieder ausbrechen will, und achten Sie mal auf den Schnörkel beim Schluß-s. Ohne Zweifel sind sie alle von derselben Person geschrieben worden. Ich möchte nicht falsche Hoffnungen wecken, Miß Morstan, aber gibt es vielleicht irgendeine Ähnlichkeit zwischen dieser Handschrift und der Ihres Vaters?«
»Da sehe ich keinerlei Ähnlichkeit.«
»Ja, daß Sie das sagen, habe ich erwartet. Wir halten also Ausschau nach Ihnen, um sechs. Bitte, gestatten Sie mir, die Papiere dazubehalten. Ich kann mich dann schon vorher damit befassen. Es ist ja erst halb vier. Bis dahin, au revoir.«
»Au revoir«, sagte unsere Besucherin und mit einem freundlichen, heiteren Blick auf uns beide barg sie die Perlenschachtel wieder an ihrem Busen und eilte davon.
Vom Fenster aus beobachtete ich, wie sie rasch die Straße hinunterschritt, und sah ihr nach, bis der graue Turban mit weißer Feder nur noch ein Fleck in der Menschenmenge war. »Was für eine reizende Frau!«
rief ich aus. Mein Freund hatte seine Pfeife wieder angezündet, lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die Augen. »So?« fragte er. »Das habe ich nicht bemerkt.«
»Sie sind wirklich ein Automat - eine Rechenmaschine«, rief ich aus. »Manchmal möchte man meinen, Sie haben gar keine menschlichen Gefühle.« Er lächelte mild.
»Sie sollten Ihr Urteil auf keinen Fall von persönlichen Vorzügen beeinflussen lassen«, entgegnete er.
»Ein Klient ist für mich nur ein Faktor in einem Problem. Die emotionalen Qualitäten hindern nur das klare Denken. Sie können mir glauben, die reizendste Frau, die ich je kannte, wurde gehängt, weil sie drei kleine Kinder vergiftet hatte, um die Versicherungssumme zu erhalten, und der abstoßendste und
unsympathischste Mann unter allen meinen Bekannten ist ein Menschenfreund, der nahezu eine
Viertelmillion für die Armen von London gestiftet hat.«
»In diesem Fall aber...«
»Ich mache nie eine Ausnahme. Man sagt, die Ausnahme bestätigt die Regel. Ich meine: eine Ausnahme widerlegt die Regel. Haben Sie sich je mit der Deutung von Handschriften befaßt? Was halten Sie von diesem Gekritzel?«»Die Schrift ist lesbar und regelmäßig«, antwortete ich. »Meines Erachtens ist sie die eines Geschäftsmanns mit gewisser Charakterstärke.«
Holmes schüttelte den Kopf.
»Schauen Sie sich doch mal an, wie er seine l's und d's macht: das d könnte auch ein a sein, und das l ein e. Männer von Charakter schreiben differenzierter, wie unleserlich sie auch immer schreiben mögen.
Seine k's schwanken mir zu sehr, und in seinen großen Buchstaben ist eine zu hohe Meinung von sich selbst. Ich gehe jetzt eben mal los. Ich muß ein paar Dinge feststellen. Lassen Sie sich dieses Buch von mir empfehlen — ich halte es für eins der ungewöhnlichsten, die ich je gelesen habe: Winwood Reades
>Martyrium des Menschen<. Ich bin in einer Stunde zurück.«
Ich saß am Fenster mit dem Buch in der Hand, aber meine Gedanken waren weit weg von den gewagten Spekulationen
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