Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
wollte. Ich kannte niemanden in der Stadt. Da ich aber nie das war, was man ein geselliges Wesen nennt, bereitete mir dieser Umstand nicht die geringste Schwierigkeit. Ich hatte nur einen einzigen Freund gehabt, der diese Bezeichnung wert war (jetzt ist es an Ihnen, zu erröten, Watson!), und in seiner Abwesenheit war es mir reichlich egal, ob ich andere Kameraden fand oder nicht.
Mir war klar, daß ich nicht darauf angewiesen war, eine Arbeit zu finden. Ich konnte jederzeit Mycroft telegrafisch um einen Wechsel bitten, aber darum ging es eigentlich gar nicht. * Andererseits konnte ich die Tage nicht einfach damit zubringen, ohne Ziel und Zweck durch die Stadt zu laufen. Ein Tourist erfährt mit diesem Programm niemals anderes als Oberflächliches über eine Stadt. Ich brauchte eine raison d’être .
Kurzfristig spielte ich mit dem Gedanken, mich als Detektiv niederzulassen, verwarf diese Idee jedoch beinahe sofort als nicht durchführbar. Mein Französisch war zwar exzellent, es schien jedoch wenig Sinn zu machen, eine Beschäftigung, die ich gerade erst mit einiger Ernüchterung hinter mir gelassen hatte, gleich wieder aufzunehmen. Überdies wußte ich kaum etwas über die Stadt und ihre Einwohner, ein Umstand, der mich in meiner Arbeit als Detektiv ungeheuer behindert hätte. Und schlimmer noch, sollte ich mit diesem Unternehmen Erfolg haben, wäre es nur eine Frage der Zeit, bevor meine Gegenwart verdächtig genug wurde, um mein Incognito zunichte zu machen.
Sie werden sich daran erinnern, daß ich mit einer Violine reiste. Ich begann meine Pariser Laufbahn, indem ich mich als Geigenlehrer betätigte. Durch Aushänge an Anschlagtafeln erwarb ich schon bald eine kleine Klientel, die meistenteils aus Kindern bestand, aber auch einen Infanteristen namens Guzot einschloß, der, nachdem er sowohl den französisch-preußischen Krieg als auch die Pariser Kommune überstanden hatte, nunmehr gedachte, den Herbst seines Lebens allein dem Studium der Violine zu widmen.
Mein Einkommen als Lehrer machte es mir möglich, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne mit Mycroft Kontakt aufnehmen zu müssen, aber das Unterrichten stellte meine Geduld doch auf eine harte Probe und strapazierte die Beziehung zu meinen Nachbarn aufs äußerste. Klavierschüler mögen zwar ebenfalls Fehler machen, aber die Pianisten müssen wenigstens nicht ihre eigenen Noten fabrizieren, sie müssen sie lediglich in korrekter Weise anschlagen. Ein Geigenspieler dagegen muß die Note schaffen, die er spielt, und das kann sich als schauderhaftes Unterfangen erweisen, vor allem, wenn es sich um einen Neuling handelt.
Meine Schüler, fürchte ich, waren da keine Ausnahme. Ich hatte einen vielversprechenden Achtjährigen, aber der Rest, einschließlich des guten, alten Guzot, bereitete mir jedesmal Kopfzerbrechen. Auch Madame Solange war weder so taub noch so weit entfernt in ihrer Erdgeschoßbehausung, daß sie sich nicht beklagt und mir gedroht hatte, mich vor die Tür zu setzen.
»Monsieur Sigerson, Sie gehen zu weit!« rief sie aus. »Wer kann solch abscheuliche Klänge ertragen? Ihnen zuzuhören, bin ich bereit«, fuhr sie fort, womit sie auf mein regelmäßiges Üben anspielte. »Den anderen nicht!«
Ich mußte zugeben, daß sie da nicht ganz unrecht hatte, und anstatt mich weiter an ihren zarten Nerven zu vergehen, sah ich mich nach einer anderen Möglichkeit um, mit der ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.
Während ich noch über diese Frage nachsann, wurde ich von Ereignissen überrollt, die einerseits mein Problem lösten, mich andererseits jedoch in diesen einzigartigen Fall hineintrieben, von dem ich Ihnen nun erzählen möchte.
Ich beschloß, eine Vorstellung von Le Prophète in der Pariser Opéra zu besuchen. Man nannte diesen Prachtbau nach seinem Architekten auch Palais Garnier, und unter diesem Namen war er wahrscheinlich sogar besser bekannt. Sie kennen meine Vorliebe für die Oper als Musikform, Watson, obwohl mir bewußt ist, daß Sie meinen Geschmack nicht teilen. Die Oper, so scheint mir, versteht es, die Elemente des Dramas zu kombinieren mit der einzigartigen Möglichkeit des gleichzeitigen Ausdrucks von innersten Gedanken und Gefühlen. Le Prophète von Mayerbeer war zwar nicht ganz nach meinem Geschmack, aber es stand nun einmal zufällig auf dem Programm. Mit der Absicht, mich ein wenig von dem Zusammenbruch meiner Karriere als Geigenlehrer zu erholen, winkte ich mir eine Droschke herbei und machte mich auf
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