Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
den Weg. Nicht einmal die grandiosesten Exzesse des Zweiten Kaiserreichs hatten mich auf den Anblick des Palais Garnier vorbereitet. Der Kaiser war meiner Meinung nach nie ein Mann gewesen, der sich eine Gelegenheit entgehen ließ, Eindruck zu schinden. Haussmann, sein Geschöpf, wollte nicht nur ein Opernhaus erbauen, sondern einen gewaltigen Kreuzungspunkt, an dem nicht weniger als sieben seiner spektakulären Boulevards, von denen einer passenderweise nach ihm selbst benannt war, zusammenliefen. Am Ende einer jeden dieser riesigen Prachtstraßen überwältigte ein anderes Gebäude das Auge – das Madeleine, der Place Vendome, der Place de la Concorde – aber die Hauptattraktion, der Fixstern in dieser ganzen gewaltigen Symmetrie, ist das große Opernhaus selbst, dieses Haus, das eine so bemerkenswerte Rolle in meinem Leben spielen sollte.
Als ich es an jenem ersten Septemberabend betrachtete * – es war von innen beleuchtet und glitzerte von außen wie ein vielfacettiges Juwel –, da war ich völlig unfähig, seine wahre Größe und Vielschichtigkeit richtig einzuschätzen. Über diese würde ich mir jedoch in den folgenden Tagen und Wochen klarer werden.
Wenn man je seinen Fuß in das große Foyer der Pariser Opéra gesetzt hat, weiß man, daß keine Beschreibung der byzantinischen Opulenz dieses Gebäudes gerecht werden kann. Alles scheint eigens geschaffen zu sein, um den Besucher tief zu beeindrucken: die große Treppe mit ihren aneinandergereihten menschlichen Skulpturen sowie die Garde Républicaine mit ihren Schwertern und weißen Kniebundhosen, ihren schwarzglänzenden Stiefeln und funkelnden, mit Federbüschen gekrönten Helmen – all das vermittelte dem Betrachter das Gefühl, ein Teil der überlebensgroßen Ereignisse zu sein, die dort stattfanden, Ereignisse, die aus nichts Bemerkenswerterem bestehen als dem Erklimmen einiger Treppenstufen.
Im Theater selbst hing dann ein gewaltiger Kronleuchter über einem Publikum aus etwa zweitausend prächtig gekleideten Gästen, deren vereintes Glitzern nur noch von dem Spektakel auf der Bühne in den Schatten gestellt wurde. Das Palais Garnier rühmt sich, die größte Vorderbühne der Welt zu besitzen, und an diesem Abend sah ich mindestens fünfhundert Statisten, ganz zu schweigen von sechs oder sieben Pferden, die die Bühne in einer Darbietung von einer Pracht und Finesse bevölkerten, die sich mit nichts vergleichen ließ, was mir je zu Gesicht gekommen war. Wirkliche Rüstungen, riesige Banner und echtes Gold und Silber verwirrten das Auge, während den ganzen Abend lang eine üppige Bilderfolge die andere jagte. Es gab so ungeheuer viel zu sehen, daß es möglich wurde, sich eine Aufführung zu denken, in der sich mehr Menschen auf der Bühne als im Zuschauerraum befanden!
Zu Beginn des dritten Aktes übertraf das Stück sich selbst. Laute des Erstaunens mischten sich mit ungläubigen Ausrufen, als das corps de ballet mit Schlittschuhen an den Füßen auf echtem Eis auftrat!
Ich muß wohl nicht besonders betonen, daß die Akustik des Hauses exzellent war und daß der arme alte Meyerbeer sowohl aus dem Parkett als auch von den Sängern mehr bekam, als ihm zustand, insbesondere von der jungen Sopranistin Christine Daaé in der Rolle der Berthe. Der Gesang dieser jungen Frau war begnadet und sie selbst obendrein eine Schönheit. Ich war nicht der einzige, der voller Bewunderung für die Reinheit ihrer Stimmtechnik, die Überzeugungskraft ihres Schauspiels und die Süße ihrer Erscheinung um Luft rang. Ich fand heraus, daß die Daaé ein relativ neuer Zuwachs des Opernarsenals war, und während der Pause hörte ich, wie einzelne Zuschauer ihr große Dinge voraussagten.
Eine Kleinigkeit zog zu dieser Zeit jedoch meine besondere Aufmerksamkeit auf mich. Das Haus war ausverkauft, wie ich während des entr’acte mit einem Blick nach links und rechts befriedigt feststellen konnte – ausverkauft mit einer seltsamen Ausnahme. Im Ersten Rang gab es eine leere Loge. Ich erinnere mich noch, wie seltsam ich das fand, um so mehr, als ich noch vor kurzem eine Menschenmenge vor dem Theater hatte Schlange stehen sehen. Eindeutig hatten diese Leute noch gehofft, daß irgend jemand in letzter Minute absagte. Dann jedoch verbannte ich die Angelegenheit aus meinen Gedanken – zweifellos gehörte die Loge irgendeinem Exzentriker, der sie für sich reservieren ließ, ob er die Aufführung nun sehen wollte oder nicht.
Ich ahnte ja nicht, wie recht ich
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